Tom Waibel
Claire Denis wurde 1946 oder 1948 in Paris geboren, sie ist als Tochter eines französischen Kolonialbeamten zum Teil in Afrika in Kamerun, Burkina Faso und Dschibuti aufgewachsen. Sie ist heute eine der bedeutendsten Filmregisseur*innen Frankreichs, Drehbuchautorin und Professorin an der Filmhochschule in Paris. Claire Denis macht bis zum heutigen Tag Filme, in denen sie mit den Zusammenhängen zwischen filmischer Form und Narration experimentiert und sich mit den Herausforderungen des Lebens in einer postkolonialen und postnationalen Zeit beschäftigt. In ihren Filmen blickt sie zumeist von den Rändern aus auf die Gesellschaft, vielfach aus der Perspektive derjenigen, die auf die eine oder andere – legale, illegale oder postkoloniale – Weise heimatlos geworden, oder unterwegs sind und sich mehr schlecht als recht durchs Leben schlagen.
Claire Denis gelingt es in ihren Filmen, ihr Publikum zu erstaunen und zu verführen, denn sie lässt ihre filmischen Ideen aus einer Fragilität entstehen, die an das Leben selbst rührt und das sinnliche und fleischliche Begehren. Es gelingt ihr scheinbar beiläufig an der Grenze von individueller Erinnerung, subjektiver Wahrnehmung, und kolonialer oder geschlechtlicher Differenz eine Fragilität einzufangen, die sich wie ein kaum wahrnehmbarer roter Faden durch die Brüche und Abgründe der Geschichten webt, in die sie uns führt und verführt.
In Chocolat (Verbotene Sehnsucht), ihrem Spielfilmdebüt von 1988, führt uns Claire Denis ins Afrika ihrer Kindheit in den 1950er Jahren, wo ihr Vater als Beamter des französischen Kolonialreichs tätig war, das zu dieser Zeit seinem Ende entgegenging. Gelebte Vergangenheit und ihre Auswirkung auf die Gegenwart sind das Thema des Films, und das Mädchen, deren Reise in die Erinnerung erzählt wird, heißt France und bringt mit ihrem Namen eine unüberhörbare Verbindung von Person und Nation ins Spiel. France befindet sich auf einer Art persönlicher Mission, einer Reise und einer Suche, in einem Film, in dem sich alles um Zeit und Erinnerung dreht, und um Gefühle, die nur von den Augen und Gesten der Figuren ablesbar werden.
Das kleine Mädchen France lebt mit seinen Eltern auf dem Außenposten Mindif im Norden der Kolonie, an der Grenze zum Tschad. Die Gegend ist ein etablierter Schauplatz in der französischen Literatur. André Gide reiste dahin und setzte seinen Landsleuten und Besatzern ein flammendes
„J’accuse!“ – „Ich klage an“
entgegen. Der Ethnologe Michel Leiris war auf einer wissenschaftlichen Expedition dort und hielt in seinem Tagebuch fest:
„Wenn die Kolonisierten nur ein wenig stärker wären, um uns auf ihre Weise eine Lehre zu erteilen!“
Kamerun war im 19. Jahrhundert eine Kolonie des deutschen Reichs gewesen. Nach dem Ersten Weltkrieg ging es in den Besitz des Völkerbundes über, der das Land zwischen Großbritannien und Frankreich aufteilte, dem 4/5 der Landfläche zur Mandatsverwaltung zugesprochen wurde. Frankreich betrieb infolge eine massive Assimilationspolitik und verbot den Gebrauch von lokalen Sprachen in den Schulen. Nach der Weltwirtschaftskrise von 1929 wurde die Mobilität der lokalen Bevölkerung eingeschränkt und die Zwangsarbeit eingeführt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es 1946 zum Wahlrecht für Frauen, aber Wahlen fanden stets in einem zwei Klassensystem statt, das der französischen Bevölkerung trotz ihrer zahlenmäßigen Unterlegenheit einen sicheren Vorteil garantierte. Ab 1945 kommt es wiederholt zu Aufständen gegen die französischen Sicherheitskräfte und zum Kampf um die Unabhängigkeit des französischen Treuhandgebietes. 1948 entsteht aus der Gewerkschaftsbewegung die Union des Populations du Cameroun (UPC), die sich mit politischen Mitteln für die Unabhängigkeit einsetzt. Sie wird von Frankreich brutal unterdrückt und 1955 schließlich komplett verboten. Daraufhin nimmt die Union den bewaffneten Kampf auf.
Nach dem Auslaufen des UN-Mandats wird im Zuge einer Volksabstimmung am 1. Januar 1960 offiziell die Unabhängigkeit ausgerufen. Allerdings etabliert sich daraufhin eine von Frankreich unterstützte Diktatur, und die nationale Befreiungsarmee (Armée nationale de Liberation du Kamerun) setzt ihren bewaffneten Freiheitskampf bis an den Beginn der 1970 Jahre fort. 1988 in dem Jahr, in dem Chocolat gedreht wird, ist Paul Biya bereits seit 6 Jahren das Staatsoberhaupt einer Präsidalrepublik, und er hält dieses Amt bis heute inne.
Allerdings spielt dieser politische Hintergrund für Claire Denis auf der Ebene der Sichtbarkeit überhaupt keine Rolle, sie verlagert den Kampf für Unabhängigkeit vielmehr auf einen eindringlichen Subtext. Die Bildpolitik und die spezifische Dekolonialität von Chocolat besteht vielmehr darin, visuell danach zu fragen, wer wen in welcher Weise sieht. Was sehen wir, wer sieht, und wer wird gesehen, und vorallem: was wird verständlich, wenn wir die Dinge aus einer solchen Perspektive betrachten?
Wir sehen die ineinander verstrickten Welten von Kolonialherren und Kolonialisierten zumeist (wenn auch nicht ausschließlich) durch die Augen und Ohren der sieben- oder achtjährigen France. Aus dieser Perspektive wird eine Wahrheit offenbar, die das kleine Mädchen zwar sieht, aber nicht verstehen kann, und die vermutlich darin besteht, dass die ungleiche Verteilung der Macht unvermeidlich alle prägt, die von ihr betroffen sind.
Der ästhetische Reiz von Chocolat liegt vor allem darin, dass uns der Film die Grenzen aufzeigt, welche den Wahrnehmungen und dem Verstehen durch die Machtverhältnisse und die Geschichte aufgezwungen werden, und uns mit Claire Denis’ höchst subjektiver Sichtweise auf Kolonialismus, Begehren und Geschlechterdifferenz konfrontiert.
So sehen wir diejenigen, die im Begriff sind, die langjährige Kolonialherrschaft abzuschütteln, und die Kolonialherren aus dem Land zu werfen, in einer Machtlosigkeit voll von in Zaum gehaltenem Schweigen, und die beiläufige Schönheit des Films besteht insbesondere darin, dass in diesen Gesten des Schweigens eine eigenwillige Beredsamkeit frei gelegt wird. So entsteht eine Ahnung davon, dass das Schweigen der Kolonialisierten ein Arsenal birgt, aus dem das Wissen geschmiedet wird, dessen es für die künftige Unabhängigkeit bedarf. Claire Denis sagt selbst über ihren ersten Langfilm:
„Am Anfang habe ich kurze Dokumentarfilme gedreht. Da ist es logisch, dachte ich, dass man nach etwas sucht. Als ich dann Chocolat machte, meinen ersten Spielfilm, war ich erstaunt, dass ich immer noch genauso dachte. Mit einem Drehbuch zu arbeiten bedeutet für mich, dass Charaktere und bestimmte Situationen festgelegt sind, nicht aber die jeweilige Lösung. Die will ich erst beim Drehen finden. Gemeinsam mit den Schauspielern, die mich dann oft auch überraschen…
Bei den Dreharbeiten zu einem Film stauen sich gegenüber allem und jedem gewaltige Emotionen auf: gegenüber den Schauspielern, der Geschichte, dazu noch die Angst und der Stress, ob man Drehplan und Budget wird einhalten können et cetera. Und plötzlich gibt es mittendrin einen Punkt, wenigstens geht es mir so, an dem man sich bewusst wird, dass es noch etwas anderes geben müsste – nicht nur, was die Arbeit betrifft, sondern auch den jeweiligen Film. Vielleicht so in der Art: Was werden die Leute denken, die diesen Film in fünfzig Jahren sehen? Wird man sehen können, dass ein gewisser Stolz darin liegt, ein menschliches Wesen zu sein? Ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass es Menschen gibt, denen man dieses Recht nimmt. Ich glaube, dass das auch das eigentliche Thema meiner Filme ist. Und vermutlich auch der Grund, weshalb ich überhaupt Filme mache.“
Literatur
Guy Austin (ed.), Contemporary French Cinema, Manchester University Press 2008.
Stephanie Dennison and Song Hwee Lim, Remapping World Cinema. Identity, Culture and Politics in Film, London: Wallflower Press 2006.
André Gide, Voyage au Congo (1927), Paris: Gallimard 1993.
Michel Leiris, Phantom Afrika (1934), Berlin: Matthes und Seitz 2022.
Michael Omasta und Isabella Reicher (Hg.), Claire Denis. Trouble Every Day, Wien: Filmmuseum/Synema 2005.