Astrologen, Träumer & Verliebte – Einige (Gegen-)Gedanken zu Johann Lurfs ★

Patrick Holzapfel

Ähnlich wie bei einem Videospiel verlangt Johann Lurfs (2017) zunächst nach einer Anleitung. Man muss wissen, um was es geht. Dann wird man über die eigene Wahrnehmung dessen, was man da sieht und hört und träumt, nachdenken. Wie bei einem Videospiel ist das aber nur in der Theorie so. Man kann sich in der Erfahrung mit dem Film die Regeln selbst beibringen. Für diesen Text sind sie jedoch unabdingbar, denn er handelt von dem, was Lurfs Regeln ausschließen.

Die Regel, das ist einmal, dass Sterne zeigt. Genauer gesagt Bilder von Sternen aus der gesamten Filmgeschichte: Analoge und digitale Sterne, einzelne Sterne, Sternengruppen, Sternenbilder, gemalte Sterne, farbige Sterne, schwarz-weiße Sterne, echte Sterne, computergenerierte Sterne, sich bewegende Sterne, runde Sterne, eckige Sterne, Pixelsterne, gebastelte Sterne, vermenschlichte Sterne, stumme Sterne, laute Sterne, Sterne in allen Formaten. „Ungezählte Millionen Sonnen“, wie es im Film heißt. Dabei darf nichts den filmischen Blick auf diese Sterne trüben. Kein Objekt oder Körper darf sich im Vordergrund bewegen, der Blick auf die Himmelskörper soll unverstellt sein. Bild und Ton folgen der Logik des Found bzw. Search Footage. Das heißt es wird zum chronologisch nächsten Ausschnitt geschnitten, wenn eine der Regeln gebrochen wird. Der Ton bleibt dabei unberührt. Abgeschlossen ist konsequenterweise nie. Denn zum einen kommen nach und nach neue Sterne in den Kinohimmel, zum anderen kann die Suche in der Filmgeschichte kaum je beendet sein.

ist ein paradoxer Film, über den man vieles sagen könnte, ohne ihn je zu sehen. Wenn man ihn aber gesehen hat, kann man vieles sagen, was man gar nicht in ihm gesehen hat. Zum Beispiel könnte man nachdenken über all die Augen, die sich vor und nach den Filmausschnitten gen Nachthimmel wenden. Also den fehlenden Gegenschuss von , an den man auch deshalb denkt, weil man als Zuseher selbst den ganzen Film über damit beschäftigt ist, zu den Sternen zu schauen. Zunächst sei bemerkt, dass sich Lurf in Zusammenarbeit mit Laura Wagner bereits selbst mit einem möglichen Gegenbild befasst hat, nämlich jenem, das es geben würde, wenn man von den Sternen zurück auf die Erde blickt. Mit Filmstills und Zitaten wird der Blick von Lurf und Wagner in MAK Center for Art and Architecture in Los Angeles auf den blauen Planeten gefasst. Ein entscheidendes Zitat dieser Arbeit stammt aus Danny Boyles The Beach (2000): “You realise that, in the eternity of space, there’s probably a planet out there, right, just like this one, where another you is photographing back towards us. I mean, essentially, you are photographing yourself in a parallel universe.” Der Blick zu den Sternen, ein Blick auf uns selbst?

, 2017, Johann Lurf

In den filmischen Werken von Lurf geht es immer auch um den Ort, von dem aus man blickt. Dadurch wird ein bisweilen politisches Verhältnis zwischen dem betrachteten Objekt und der Kamera offenbar. Zum Beispiel in EMBARGO (2014), in dem Lurf die scheinbare Unsichtbarkeit der österreichischen Waffenindustrie mit einem filmischen Modus der Sichtbarkeit hintergeht. Er blickt auf das, was eigentlich verborgen bleiben will und mittels Überwachungssystemen eigentlich auf uns blickt. Ein Gegenschuss mit allen Konnotationen also. Auch Picture Perfect Pyramid (2013) handelt von der wechselhaften Wahrnehmung eines Ortes studiert aus vielen Blickwinkeln. Jene Blickwinkel sind es im konkreten wie im übertragenen Sinn und bei Lurf wird immer wieder deutlich, dass wer blickt nicht so wichtig ist, wie wohin und wie man von wo aus blickt. Ganz konkret mit dem Schuss/Gegenschuss-Prinzip, das in Peter Tscherkasskys Shot – Countershot (1987) im österreichischen Kino bereits zu einem ironischen Endpunkt geführt wurde, arbeitet Lurf in seinem Capital Cuba (2015). Dort verhält sich das Auseinanderklaffen von Schuss und Gegenschuss auch analog zu jenem von Idee und Realität, Bild und Erfahrung. Zudem bleibt der Eindruck einer Irritation, die nicht wie im klassischen Filmschnitt üblich dem emotional geleiteten Prinzip von Aktion und Reaktion folgt, sondern jenem einer Transformation, die nie ganz greifbar wird und somit keine Übersicht über Blickachsen schafft, sondern eher ein Mischmasch an Gleichzeitigkeit und Verschiebungen. In aber: kein Gegenschuss, kein Gegenbild, nur die Sammelwut eines ikonischen und doch ganz konkreten Bildes in all seinen Variationen.

Der Blick zu den Sternen kennt nicht nur im Kino viele Bedeutungen. Man denkt an jene, die zu den Sternen schauen könnten: Astrologen, Träumer und Verliebte. So wie zum Beispiel in William Wylers grandiosem, lange übersehenem A House Divided (1932), als die junge Ruth Evans und der Sohn ihres monströsen Ehemannes einen der seltenen harmonischen Augenblicke des Films am nächtlichen Meeresufer teilen und zu den Sternen blickend den berühmten englischen Kinderreim von sich geben:

Star light, star bright,

The first star I see tonight;

I wish I may, I wish I might,

Have the wish I wish tonight.

Sterne werden mit einer gewissen Romantik assoziiert. Wünsche, Sehnsüchte, Wege in die Zukunft, weit entfernte Welten. Sie erscheinen in der Nacht. Ihre Existenz war für Menschen so lange ein Rätsel, das man sich vorstellen kann wie Rituale und Glaubensformen aufgrund von Sternen entstanden. Oder mit David Bowie: “There’s a starman waiting in the sky. He’d like to come and meet us. But he thinks he’d blow our minds.” Natürlich finden sie sich auch in vielen SciFi-Filmen. Dort sind sie oft ein deutlich konkreteres Ziel. Der leuchtende Punkt in der Ferne kann erreicht werden. Man lebt mit und auf den Sternen.

Sterne sind äußerst symbolträchtig. Nicht nur im Kino. Das liegt daran, dass wir in ihnen immer etwas wahrnehmen, was eigentlich schon war. Die zeitliche Verschiebung des Lichts, die aus der Gegenwart, in der man einen Stern erblickt, womöglich die Re-Präsentation eines längst erloschenen Sterns erscheinen lässt, erinnert letztlich an das Kino. Denn auch dort gibt es ein Licht, das uns etwas ganz gegenwärtig zeigt, was eigentlich schon geschehen ist. Lurfs stellt die Frage nach der Wahrnehmung dieser Sterne und ganz bewusst sieht man dabei nicht die Wahrnehmenden. Denn letztlich ist man das selbst.

Ein Film, den man im Liegen sehen könnte oder gar sollte? Ein wenig erinnert das alles an einen Ausspruch von Jean-Luc Godard, der sagte, dass man im Kino nach oben blicken würde und beim Fernsehen nach unten. Ein Star, das ist auch etwas, nach dem man greift und das ist ein ganzes System in Hollywood. Es basiert auch auf Illusionen und dem nahe am Schuss/Gegenschuss-Verfahren angelegten Wechselspiel aus Identifikation und Unerreichbarkeit. In den Stars sollen Zuseher oft sich selbst sehen und das Besondere in sich selbst. Ein Funkeln in der Nacht des Kinos.

Es ist nur eine Vermutung, aber man könnte glauben, dass Sterne im Kino selten von stehenden Menschen betrachtet werden, eher von liegenden oder sitzenden. Womöglich würde der Gegenschuss aber gar keine Menschen zeigen, sondern nur nächtliche Städte, eine beginnende Nacht, die vom Sternenhimmel in friedlicher Gleichgültigkeit beobachtet wird. Die vielen kurzen Ausschnitte von Sternen in verraten letztlich, dass selbst dieses kontemplative Bild vom narrativen Diktat des industriellen Kinos meist in Handlungen eingebettet werden. Kein Blick geht zu ihnen. Statt Gegenbild sind sie ein Zwischenbild. Erst in Lurfs Film werden die Sterne selbst zum Star und damit auch zur Frage. Die Frage für den Astrologen im Kino mit ist eine andere wie für den Verliebten und wieder eine andere für den Filmwissenschaftler. Vereinigt werden letztlich alle in der Gegenwärtigkeit dieser Lichtpunkte auf der Kinoleinwand.

Vielleicht ist das Kino selbst ein Gegenbild, das wäre nicht zu viel verlangt. Es erlaubt zum Beispiel, die Sterne zu betrachten. Dann wären die Sterne bereits der Gegenschuss.