Rise Up! #1 Flucht nach vorn: Djibril Diop Mambéty

Tom Waibel

Das Konzept der Filmreihe “Rise Up! Kino und (De)Kolonialität” erinnert gleich zu Beginn an Frantz Fanon, der 1961 in seinen bahnbrechenden Überlegungen über Die Verdammten dieser Erde feststellt:

Der Kolonialismus ist keine Denkmaschine, kein vernunftbegabter Körper. Er ist die Gewalt im Naturzustand und kann sich nur einer noch größeren Gewalt beugen.

Frantz Fanon steht auch am Beginn eines folgenreichen Kino-Manifests von 1968 mit dem sprechenden Titel Für ein Drittes Kino, in dem die lateinamerikanischen Regisseure Fernando Solanas und Octavio Getino vom Kino nichts Geringeres einfordern, als die möglichst vollständige “Dekolonialisierung der Kultur.”

Im Sinne einer solchen Absicht der Dekolonalisierung von Kultur ist auch das Afrikanische Kino ein Drittes Kino, insofern wir die Bezeichnung Afrikanisches Kino als Sammelbegriff für eine Reihe von höchst unterschiedlichen Filmpraktiken verwenden. Das afrikanische Kino entsteht größtenteils im Kontext des antikolonialen Kampfes und seiner unmittelbaren Nachwirkungen und es nicht übertrieben festzustellen, dass das afrikanische Kino ein nahezu ausschließlich postkoloniales Phänomen darstellt: Das Schaffen afrikanischer Filmemacher*innen ist in gewisser Weise ein Kind der politischen Unabhängigkeit des afrikanischen Kontinents, die nach dem Zweiten Weltkrieg allmählich in Gang kommt.

Dementsprechend gibt es wohl auch gar keine Möglichkeit, das afrikanische (Kino) zu begreifen, ohne sich der vergangenen und gegenwärtigen Auswirkungen von Kolonialismus und Kolonialität bewusst zu werden. Allerdings würde eine eingehende Erörterung dieser Fragen den Rahmen dieser Einführung bei weitem sprengen, daher beschränken wir uns hier auf einen kleinen Einblick in einige Aspekte dieser langen und durchaus grausamen Geschichte.

Beginnen wir mit der Bedeutung der Vorkolonialen Epoche für das Afrikanische Kino: Sicherlich, vor der kolonialen Einflussnahme gab es auch keinen afrikanischen Film, aber dennoch beeinflusst die Erinnerung an das vorkoloniale Afrika die Filmemacher*innen auf vielfältige Weise. Etwa durch die (formale) Bezugnahme auf kulturelle Praktiken, wie etwa die Rolle der mündlichen Erzählung, und die Bedeutung der historischen Geschichten-Erzähler*innen, der Griots. In inhaltlicher Hinsicht finden sich immer wieder Bezüge auf vermeintliche oder tatsächliche vorkoloniale soziale Formationen und kulturelle Praktiken, und eine mitunter feierliche, manchmal auch revisionistische, oder aber spöttische Darstellung der Vergangenheit.

Film kam erst mit dem Kolonialismus nach Afrika, und wurde vielfach als Teil der kolonialen Politik eingesetzt. Weniger als ein Jahr nachdem die Brüder Lumière 1895 in Paris ihre ersten Filme öffentlich vorgestellt hatten, tauchte Kino auch in Ägypten und Südafrika auf. In einem großen Teil des subsaharischen Afrika wurde Film zwar erst in den 1920er Jahren bekannt, aber zu dieser Zeit war Ägypten bereits im Begriff, die erste unabhängige Filmindustrie Afrikas aufzubauen. Das geschah übrigens zur selben Zeit, als die ersten Tarzan-Filme auftauchten, die ein deutliches Beispiel dafür liefern, wie mit Hilfe von Film kolonialistische und rassistische Stereotypen bedient und verstärkt wurden. Erstaunlicherweise trug das Kino ausgerecht zu jener Zeit zur ideologischen Festigung des kolonialen Unternehmens bei, als die Legitimität des Kolonialismus zunehmend in Frage gestellt wurde.

Dieser Umstand, gepaart mit der Tatsache, dass sich Film auf dem Höhepunkt der kolonialen Expansion etabliert, dass Kino als technologisches System eng an den kolonialen Westen gebunden ist, und dass es auf kapitalistische Produktionsverhältnisse angewiesen ist, stellt die spätere dekoloniale Aneignung des Mediums vor beträchtliche Herausforderungen. Das führt schließlich dazu, dass das afrikanische Kino als postkoloniales Phänomen insbesondere zur Selbstverständigung über die neue politische Unabhängigkeit eingesetzt wird, und dazu dient, die Auswirkungen der fortdauernden Kolonialität der bestehenden Machtbeziehungen sichtbar zu machen. Der politische Transfer der Macht war nämlich auch ein ökonomischer Transfer von sozialen Krisen, und daraus ergaben sich eine Reihe neuer Aufgaben für das afrikanische Kino, vor allem aber der Versuch, Gedächtnis und Erinnerung dekolonialisieren. Sehen wir zur Bedeutung der Erinnerung noch einmal Frantz Fanon:

Es ist vielleicht noch nicht genügen darauf hingewiesen worden, dass der Kolonialismus sich nicht damit begnügt, der Gegenwart und der Zukunft des beherrschten Landes sein Gesetz aufzuzwingen. Er gibt sich nicht damit zufrieden, das Volk in Ketten zu legen, jede Form und jeden Inhalt aus dem Gehirn des Kolonisierten zu vertreiben. Er kehrt die Logik gleichsam um und richtet sein Interesse auf die Vergangenheit des unterdrückten Volkes, um sie zu verzerren, zu entstellen und auszulöschen.

Für viele Kritiker*innen und Filmemacher*innen stand das afrikanische Kino der 1960er und 1970er Jahre an der vordersten Front eines politisch und künstlerisch radikalen Dritten Kinos, und das trifft in ganz besonderer Weise auf Mambéty zu, der mit seinem subjektiven, spielerischen und experimentellen Stil einen machtvollen und originellen Ausdruck von der Vielfalt des postkolonialen Kinos vermittelt.

Djibril Diop Mambéty kommt 1945 in Colobane einem Stadtteil von Dakar auf die Welt, und man sagt, er hätte schon als Kind versucht, die Welt durch seine eigene Intervention zu begreifen. Diese Herangehensweise führt wohl auch dazu, dass er als Jugendlicher bald aus der Schule fliegt, und eine Schauspiel-Ausbildung beginnt, von der er allerdings auch vor seinem Abschluss hinausgeworfen wird. Zur gleichen Zeit ist Mambéty ein leidenschaftlicher Kinoliebhaber, und erwirbt sich als Mitglied des Filmclubs von Dakar ein umfassendes Wissen über das Weltkino. Mit 22 Jahren borgt er sich eine Kamera aus, und macht seinen ersten viel beachteten Kurzfilm Badou Boy. Danach setzt er sich nach Frankreich ab, und verbringt mehrere Jahre in Marseille, wo er sich eine Reihe von Erfahrungen einhandelt, die seine Illusionen über die sagenumwobene Welt der ehemaligen Kolonialmacht nachhaltig zerstören. Er kehrt zurück in den Senegal und dreht Touki Bouki, die Reise der Hyäne, die den Auftakt der Filmreihe Rise Up! bildet.

Touki Bouki (Die Reise der Hyäne), SE 1973, Djibril Diop Mambéty

Touki Bouki ist schockierend, umwerfend und bahnbrechend: das historisch erste Beispiel einer afrikanischen Avantgarde, poetisch, eindrucksvoll und herausfordernd. Nach Touki Bouki verschwindet Mambéty auf mysteriöse Weise von der Bildfläche, und es wird mehr als 15 Jahre dauern, bis er wieder anfängt, Filme zu machen. Mambéty stirbt 1998 mit 54 Jahren und hinterlässt ein vergleichsweise kleines Oevre mit fünf Kurzfilmen und zwei Langfilmen, neben Touki Bouki dreht er 1992 mit Hyenas eine westafrikanische Version von Dürrenmatts Besuch der alten Dame. 

Mambétys Werk ist vielleicht das beste Beispiel für einen afrikanischen Regisseur, der in seinen Filmen die Forderung nach Repräsentativität vehement zurückweist. Aus dem spielerischen und vieldeutigen Ausdruck seiner Filme spricht die künstlerische Weigerung sich auf die direkte Vertretung eines politischen Standpunkts einzulassen. Mambétys Filme wenden sich konsequent von erzählerischen Realismen ab, und geben Fantasie- oder Traumsequenzen Raum, die in einer fragmentierten Erzählweise die Zuschauer*innen auffordern, ihr Verständnis der Welt und der Ereignisse zu hinterfragen. Mambétys Filme üben Kritik an den Auswirkungen der kapitalistischen Moderne auf die postkoloniale senegalesische Gesellschaft, und diese Kritik erfolgt auf eine persönliche, schrille und schräge Art und Weise, die die Bezeichnung queer durchaus verdient hat. Lassen wir zum Abschluss Djibril Diop Mambéty selbst zu Wort kommen:

Man muss sich entscheiden zwischen stilistischer Forschung und der bloßen Aufzeichnung von Fakten. Ich glaube, dass Filmemacher*innen über die Aufzeichnung von Fakten hinausgehen müssen. Außerdem glaube ich, dass vor allem die Afrikaner*innen das Kino neu erfinden müssen. Das ist eine schwierige Aufgabe, weil unser Publikum an eine bestimmte Filmsprache gewöhnt ist, aber man muss sich entscheiden: Entweder man ist sehr populär und spricht mit den Leuten auf eine einfache und schlichte Art und Weise, oder man sucht nach einer afrikanischen Filmsprache, die Geplapper und Formalismen ausschließt, um sich mehr darauf zu konzentrieren, wie man Bilder und Töne zum Einsatz bringt.

Literatur

Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde (1961), Frankfurt/Main: Suhrkamp 2021.

David Murphy, Patrick Williams (ed.), Postcolonial African Cinema, Manchester: Manchester University Press 2007.

Françoise Pfaff (ed.), Focus on African Films, Bloomington: Indiana University Press 2004.

Nar Sene, Djibril Diop Mambety. La Caméra au bout… du nez, Paris: L´Harmattan 2001.

Fernando Solanas, Octavio Getino, Towards a Third Cinema (1969), in: Scott McKenzie (ed.), Film Manifestos and Global Cinema Culture, Berkeley: University of California Press 2014.

Nwachukwu Frank Ukadike (ed.), Questioning African Cinema, Minneapolis: University of Minnesota Press 2002.