Rise Up! #7 Aus dem Schatten treten: Ritwik Ghatak

Tom Waibel

Die historische Erfahrung Indiens zeigt, dass es beim sogenannten Dritten Kino, das in den Auseinandersetzungen um Film und Dekolonialisierung eine so bedeutsame Rolle spielt, immer auch um Selbstdarstellung und Selbstvergewisserung geht. Und dabei steht insbesondere die Artikulation der kolonialisierten Individuen auf dem Spiel, der marginalisierten Subjekte, oder, wie es die indische Literaturwissenschafterin Gayatri Chakravorty Spivak formuliert hat, die Äußerung der Subalternen, die darum nicht sprechen können, weil ihnen nie Gehör geschenkt wurde.

Auch wenn 1947 letztlich Ghandis Bewegung der Nicht-Zusammenarbeit und des gewaltlosen Widerstands den Ausschlag für die Unabhängigkeit gegeben hatte, so kennt die Auseinandersetzung um diese Unabhängigkeit doch eine blutige Vorgeschichte, die zur Teilung Indiens und zu den größten Fluchtbewegungen des 20. Jahrhunderts führte. Ein außerhalb von Indien wenig beachteter Aspekt dieser grausamen Vorgeschichte ist die große Hungersnot von 1943, die von den Briten im Rahmen ihrer Kriegsanstrengungen herbeigeführt worden war: In einem Jahr mit einer sehr guten Ernte waren zwischen 10 und 15 Millionen Menschen verhungert, weil die Briten Nahrungsmittel im großen Stil außer Landes geschafft hatten, um sie zur Versorgung der Armeen des Empire einzusetzen.

Dazu kamen die blutigen Auseinandersetzungen zwischen Hindus und Moslems am Vorabend der Unabhängigkeit. Ihre Folge war die Teilung Bengalens, die die massivste und wohl traumatischste Fluchtbewegung in der Geschichte Indiens mit sich brachte. Am 18. Juli 1947 wurde Bengalen aus Glaubensgründen geteilt. Mehr als die Hälfte der bengalischen Moslems zogen nach Pakistan, und Ostpakistan wurde später zu Bangladesh. In Pakistan mussten ebenfalls Millionen von Menschen das Land verlassen und zogen in ein bereits übervölkertes Indien, wo sie vor allem die Straßen Kalkuttas überschwemmten. Historische Quellen sprechen von einer Fluchtbewegung, die mehr als 30 Millionen Moslems und über 40 Millionen Hindus umfasste. Ritwik Ghatak beschreibt diese Entwicklung, die er selbst leidvoll erfahren musste, so:

„Die alte bengalische Welt wurde durch den Krieg und die Hungersnot erschüttert, bevor Großbritannien, der Kongress und die Muslimische Liga das Land in Teile rissen, und die Unabhängigkeit zersplitterten. Kommunale Unruhen überschwemmten das Land. Die Wasser des Ganges und des Padma flossen purpurrot vom Blut der sich bekriegenden Brüder, und unsere Träume verblassten.“

Ritwik Ghatak ist 1925 in Bengalen geboren und 1976 mit 50 Jahren in Kolkata wie im Exil gestorben. Bevor Ghatak Filmemacher wurde, war er Theateraktivist in der marxistisch geprägten Indian People’s Theatre Association (IPTA), wo er als Schauspieler, Dramatiker und Regisseur in zahlreichen Regionen Indiens, insbesondere aber in Bengalen aktiv war. Ghatak schrieb zahlreiche revolutionäre Stücke, wurde Leiter der Central Squad der IPTA in Bengalen, spielte, führte Regie und brachte in den Städten und Distrikten Agitprop Theater auf die Bühne, bis die politische Führung und die Künstler*innen in eine heftige Auseinandersetzung gerieten, weil die Künstler*innen sich weigerten, doktrinäre Stücke zu schreiben, in denen Gut und Böse, Kapitalismus und Sklaverei, Freiheit und Unterdrückung in Schwarz-Weiß-Manier abgehandelt wurden. Ghatak musste vor einer Partei-Kommission erscheinen, wurde als Trotzkist abgestempelt und wandte sich dem Kino zu. Er sagt von sich selbst:

„Mir wurde klar, dass heutzutage der Film das einzige Medium ist, mit dem man sagen kann, was man zu sagen hat. Ich kann gleichzeitig Millionen von Menschen ansprechen, was sonst mit keinem anderen Medium möglich wäre. So kam ich zum Film. Also ganz und gar nicht, weil ich glaubte, damit viel Geld zu machen, sondern viel eher, weil ich meiner Angst und meinem Schmerz für die leidende Bevölkerung Ausdruck verleihen wollte.“

Dieser Schmerz kommt auch in Meghe dhaka tara (Der verborgene Stern) zum Ausdruck. Der Film erzählt die Geschichte des Mädchens Nita als das exemplarische Schicksal so vieler Flüchtlinge, als die beispielhafte Tragödie von entwurzelten Heimatlosen, für die die alten traditionellen Werte alle Bedeutung verloren haben, und die nur durch den Einsatz und die Empathie von solchen Frauen wie Nita weiterleben.

Meghe dhaka tara (Der verborgene Stern), IN 1960, Ritwik Ghatak
Meghe dhaka tara (Der verborgene Stern), IN 1960, Ritwik Ghatak

Es ist vermutlich nicht übertrieben zu sagen, dass alle Filme Ghataks den Stempel des Exils tragen, und einen höchst eigenwilligen Beitrag zu einem schroffen Monument der Nicht-Versöhnung leisten. In den Filmen Ghataks wird man schonungslos mit dem Unterschied zwischen Erfahrung und Information konfrontiert: Sensibel und hellsichtig, messerscharf in der Argumentation und aufwühlend in seiner kontrollierten Emotionalität führt Ghatak den Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft vom Konkreten ins Gleichnishafte, ja Mythologische. Die formale Gestaltung von Meghe dhaka tara ist von großer Fülle und Komplexität, aber auch wer in Der verborgene Stern nur ein Melodrama sehen will, kann sich seinen Gefühlen hingeben, ohne dabei von der innovativen Bildsprache gestört zu werden.

Ritwik Ghatak ist ein Regisseur, der aus der Sicht eines unbeirrbaren und unbestechlichen Außenseiters die lebendige Vergangenheit und die unbekannte Zukunft befragt, und dabei ein tiefes Verständnis für die Menschen und die allumfassende Natur aufbringt. Ghataks Auseinandersetzung mit der Moderne ist unerbittlich und vielschichtig, und erfolgt mit einer künstlerischen und gedanklichen Intensität, die auch ein aufgeklärtes und abgebrühtes Publikum zu erschüttern vermag. Seine Filme erweitern den Horizont und die Vorstellung davon, was Kino sein kann, ausdrücken kann und leisten kann, und er macht mit tiefer und stets unerfüllter Leidenschaft deutlich, dass wir alle, ebenso wie Nita oder Ghatak selbst, in gewisser Hinsicht flüchtig und heimatlos sind.

Ghataks Filme führen uns immer wieder an den Rand der Hoffnungslosigkeit, um uns dann zurückzuholen – oft mit einem Lied von Rabindranath Tagore, der als erster nicht-westlicher Schriftsteller mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde. Einem Interviewer gegenüber erklärte Ghatak einst sein Verhältnis zu Tagore:

„Ohne ihn kann ich nicht sprechen. Dieser Mann hat all meine Gefühle gekannt, lange bevor ich geboren wurde. Er hat verstanden, was ich bin, und hat mir alle Worte in den Mund gelegt.“

Mit dem Arsenal von Tagores Worten stellt Ghatak etwas mit unserem Bewusstsein an, das dem ähnlich ist, was große Musiker*innen mit ihren Instrumenten machen: Zuerst öffnet er uns mit seinen Geschichten, als hätten wir Tasten oder Saiten, danach schlägt er unvermittelt eine Dissonanz an, um schließlich doch noch einen Akkord durchklingen zu lassen… Ghatak selbst hatte Zeit seines Lebens eine hohe Meinung von Der verborgene Stern, und stellte fest:

„Trotz der Missbilligung vieler Leute erkläre ich Meghe dhaka tara zu meinem größten Film. Ich bin mir völlig bewusst, dass ich zu viel Sentimentalität hineingepackt habe, aber ich stellte grenzenlose Ansprüche an den Film. Ich wollte den Spuren nachgehen, die zu unserem Ursprung führen und unsere Traditionen erklären. Ich wollte die darin verborgene allumfassende Dimension erkennen.

Je mehr ich mich in den Film hineingearbeitet habe, desto klarer hat sich gezeigt, welches Thema mich in meinem Leben und Werk am meisten beschäftigt: die indische Mythologie. Ich glaube, ohne zu übertreiben sagen zu dürfen, dass in diesem Film mein ganzes Gedankengut und meine Ideen voll zum Ausdruck kommen.“

Ritwik Ghatak hat sich ein Leben lang an der Frage abgearbeitet, was Kunst sei und was Kino leisten müsse, und er kam zuletzt zu diesen Schlussfolgerungen:

„Tagore hat einmal gesagt, Kunst müsse in erster Linie wahr und dann erst schön sein. Nicht dass die Wahrheit aus jeder Arbeit ein Kunstwerk macht, aber ohne Wahrheit ist kein Kunstwerk etwas wert.
Nun, was ist Wahrheit? Es gibt keine immerwährende Wahrheit. Jeder Künstler muss seine eigene persönliche Wahrheit finden, und das ist ein langer schmerzhafter Prozess. Und diese Wahrheit muss er vermitteln.“

Literatur

Haimanti Banerjee, Ritwik Kumar Ghatak. A Monograph, Pune: National Film Archive of India 1985.

Chidananda Das Gupta, Kino, Marxismus und die Muttergöttin: über den Filmemacher Ritwik Ghatak, in: Das Gupta/ Kobe (Hg.), Kino in Indien, Freiburg im Breisgau: Mersch Verlag.

Freunde der deutschen Kinemathek (Hg.), Filmland Indien, Berlin 1991.

Ritwik Ghatak, Rows and Rows of Fences, Calcutta: Seagull Books 2000.

Geeta Kapur, Articulating the Self into History, in: Jim Pines/Paul Willemen (ed.), Questions of Third Cinema, London: BFI 1989

Willem Jan Otten, The burning tiger, Filmfestival Rotterdam und Niederländisches Filmmuseum 1990

Gayatri Chakravorty Spivak, Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation (1988), Wien: Turia + Kant 2008.

Rabindranath Tagore, Gedichte und Lieder, Berlin: Insel 2020.