The Other – Das Cabinet des Dr. Caligari

Tom Waibel

Wenn im Rahmen der Reihe “The Other” die Behauptung aufgestellt wird, dass Filmgeschichte immer auch die Geschichte einer nicht enden wollenden Suche nach der/dem/den Anderen sei, und dass im Anderen Gefahren lauern und Abenteuer locken, so geschieht dies insbesondere deshalb, um darauf aufmerksam zu machen, dass der Rahmen (oder das Fenster) der Leinwand dazu einlädt, in die Träume und Albträume der Anderen einzutauchen. Und diese Einladung gilt in besonderer Weise für das Cabinet des Dr. Caligari von 1920. Über diesen Welterfolg des Stummfilmkinos ist bereits soviel gesagt worden, dass wir uns an dieser Stelle darauf beschränken möchten, einige historische Kommentare und Überlegungen zu Caligari kurz in Erinnerung zu rufen.

Das Cabinet des Dr. Caligari, 1920, Robert Wiene

Das Buch zum Film stammt von Hans Janowitz und Carl Mayer, und Erich Pommer, der Produzent, der das Skript als Erstes zu Gesicht bekam, erkannte sogleich sein Potential: Er produzierte das Werk in weniger als einem halben Jahr. Pommer war ein großer Realist und er erinnerte sich später:

„Während Janowitz und Mayer über Kunst sprachen, dachte ich an ganz andere Aspekte des Skripts. Das Mysteriöse und die makabre Atmosphäre des Grand Guignol war zu der Zeit en vogue in deutschen Filmen, und diese Story paßte vollkommen da hinein. Sie sahen in dem Skript ein ‚Experiment‘ – ich sah eine verhältnismäßig billige Produktion.“

Ursprünglich war Fritz Lang als Regisseur vorgesehen, aber der war anderweitige Verpflichtungen mit einer Filmserie eingegangen und so heuerte Pommer Robert Wiene für die Regie und Hermann Warm für die Ausstattung an. Warms Leitspruch zu dieser Zeit lautete, „Das Filmbild muss Graphik werden“ und in diesem Sinne schufen er und seine Mitarbeiter eine expressionistische und von hieroglyphischen Zeichen geformte Caligari-Welt. Und diese düstere Seelen-Welt wird zum zentralen Argument für Siegfried Kracauer in seiner psychologischen Geschichte des deutschen Films von 1947, die den programmatischen Titel Von Caligari zu Hitler trägt. In seinem neuartigen soziologischen Zugang ging Kracauer davon aus, dass sich

„hinter der offen darliegenden Geschichte der ökonomischen Schwankungen, sozialen Erfordernisse und politischen Machenschaften eine geheime Geschichte ab[bildet], die die inneren Dispositionen [der Zuseher*innen] ins Spiel bringt.“

Auf der Grundlage dieser Annahme formuliert Kracauer das Ziel seiner Untersuchung so:

„Die Aufdeckung dieser Dispositionen im Medium des deutschen Films könnte dazu beitragen, Hitlers Aufstieg und Machtergreifung zu verstehen.“

Dementsprechend entdeckte Kracauer im neuartigen und überraschend expressionistischen Szenenbild eine Bestätigung dafür, 

„daß die meisten Deutschen [in der Zwischenkriegszeit] danach drängten, sich von der harten Außenwelt ins Reich der Seele zurückzuziehen.“ Denn die Szenerien des Caligari wollen Kracauer zufolge, „auf eine vollkommene Verwandlung materieller Dinge in emotionale Ornamente hinaus.“

Durch diese Maßnahme wird aus dem filmischen Raum eine Art Seelen-Raum, von dem Kracauer sich (und uns) fragt:

„War es noch der normale Raum? Gemalte Schatten, die nicht mit den zu erwartenden Lichteffekten übereinstimmten, und Zickzacklinien, die allen Gesetzen der Perspektive zuwiderliefen, hoben seine Struktur radikal auf. Hier schrumpfte der Raum zur flachen Ebene zusammen, dort vervielfältigte er seine Dimensionen, um, wie ein Beobachter formulierte, in ein ‚stereoskopisches Universum‘ auszuarten.“

Dieses stereoskopische Universum stellte das Schauspiel vor neue Herausforderungen, und es war ungemein schwierig, menschliche Figuren und ihre Gesten ins Gewebe eines solchen Set-Designs einzubeziehen. Und von allen Schauspieler*innen dieses Films sind tatsächlich nur zwei dieser Herausforderung gewachsen: es sind die beiden Hauptdarsteller, die direkt der Phantasie eines Graphikers entsprungen scheinen. Es ist wiederum Kracauer, der ihr Spiel plastisch beschreibt:

Werner Krauß als Caligari glich einem gespenstischen Zauberkünstler, der selber die Linien und Schatten wob, durch die er schritt. Und wenn Conrad Veidts Cesare an einer Mauer entlangstreifte, so war es nicht anders, als habe die Mauer ihn ausgedünstet.“

Lotte H. Eisner greift Kracauers Überlegungen zu Caligari auf und stellt ihrer eigenen Untersuchung zur dämonischen Leinwand dieses Motto voran:

„Der deutsche Mensch, das ist der dämonische Mensch an sich. Schlechthin dämonisch verdient das rätselhafte Verhalten zu einer fertiggebildeten Wirklichkeit, zu einer rundgeballten Welt genannt zu werden… Dämonisch ist der Abgrund, der nie gefüllt, dämonisch die Sehnsucht, die nie gestillt, der Durst, der nie gelöscht wird.“

Um die Frage nach dem Dämonischen geht es auch bei einem zentralen Disput um den Film, nämlich der kontroversiellen Debatte um die Rahmenhandlung. Kracauer war der Ansicht, dass die Rahmung des Caligari-Stoffs diesem jede revolutionäre Spitze genommen habe, und dass Robert Wiene und Fritz Lang für diese Änderung verantwortlich gewesen seien:

„In völliger Übereinstimmung mit Langs Ideen schlug er [Wiene] eine wesentliche Änderung der Originalhandlung vor – eine Änderung, gegen die beide Autoren heftig protestierten. Aber niemand beachtete sie. Die Originalhandlung war ein Bericht über wirkliche Greueltaten; Wienes Bearbeitung verwandelte den Bericht in eine vom nunmehr geistesgestörten Francis ersonnene und erzählte Phantasie. Um diese Verwandlung zu bewerkstelligen, wurde die Originalhandlung in eine Rahmengeschichte eingebaut, in der Francis als Irrer auftritt.“

Fritz Lang weist diese Darstellung Kracauers empört zurück mit der Feststellung, dass all dies völlig unrichtig sei, und fährt fort:

„Im übrigen gehe ich – wie mit vielen Dingen in Kracauers Buch – auch mit seiner Schlußfolgerung nicht konform, nämlich daß die gegenwärtige Rahmenhandlung die revolutionäre Tendenz der Handlung gegen die Autorität abschwäche und freue mich, daß Sie ebenso wie ich finden, daß die eine Szene die Handlung eher verstärkt.“

Bitte urteilen Sie selbst, welche Sicht auf diese Auseinandersetzung Ihnen Ihre eigenes Kinoerlebnis nahelegt. Aber ganz unabhängig davon, welche Schlüsse Sie selbst ziehen werden, sei abschließend noch an eine zeitgenössische Kritik von Louis Delluc aus Paris im Jahr 1922 erinnert, in der zu lesen ist:

„Es ist der Rhythmus, der Caligari seine Eindringlichkeit verleiht. Zuerst ist dieser Rhythmus äußerst langsam, ja geradezu mit Absicht umständlich, es wird der Versuch gemacht, die Erwartungen auf die Folter zu spannen. Dann, wenn sich das vage Getriebe des Jahrmarkts zu drehen beginnt, wird das Tempo beschwingt, die Handlung konzentriert sich, beschleunigt sich, reißt mit, das Wort ‚Ende‘ überrascht uns wie eine Ohrfeige.“

Literatur
Olaf Brill, Der Caligari-Komplex, München: belleville 2011.

Caligari und Caligarismus, Berlin: Deutsche Kinemathek 1970.

Lotte H. Eisner, Die dämonische Leinwand, Frankfurt: Kommunales Kino 1975.

Siegfried Kracauer, Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films, (1947) Frankfurt: Suhrkamp 1979.