Tom Waibel
Vom 3. März bis zum 1. Mai 2023 wird in der Reihe “The Other” im Rahmen von Collection on Screen der Versuch unternommen, die Filmgeschichte gegen den zu Strich bürsten, indem sie unter dem Gesichtspunkt der Geschichte einer nicht enden wollenden Suche nach der/dem/den Anderen betrachtet wird. In dieser Suche geht es nicht so sehr um Held*innen oder Stars, als vielmehr um Outlaws, Marginalisierte oder Verlierer*innen: Denn die Anderen des Kinos sind Freaks und Fremde, Misfits und Monster, Kinder, Frauen, Vamps, Maschinenwesen, Tiere, Tote und Untote … Im Anderen lauern Gefahren und locken Abenteuer, und die Leinwand lädt dazu ein, in die Träume und Albträume der Anderen einzutauchen.
Für den Film, mit dem die Suche beginnen soll, gelten diese Überlegungen auf eine ganz besondere Art und Weise: Dead Birds von Robert Gardner aus 1963 ist gewissermaßen die Urszene der visuellen Anthropologie. Sicherlich, es handelt sich dabei keineswegs um den ersten Film, in dem ethnographisches Material zu einem kinematographischen Werk montiert wurde. Robert Flaherty hatte bereits 1922 mit Nanook of the North die Richtung vorgegeben, wie mit dokumentarischen Aufnahmen ein fiktionales Dokument montiert werden kann. Und Jean Rouch hatte mit Maîtres fous und seiner an der Anthropologie von Marcel Mauss geschulten Methode des Cinéma vérité in den 1950ern bedeutende ethnographische Filmdokumente hergestellt. Warum Gardners erster Langfilm dennoch mit einigem Recht als Urszene bezeichnet werden kann, liegt vor allem daran, dass sein unvergleichlicher Blick auf das Leben und Sterben der Dani im Hochtal von Baliem in West-Neuguinea, uns als Betrachter*innen unweigerlich auch für die tiefgreifenden Differenzen zwischen dem filmischen Schaffen und der anthropologischen Forschung sensibilisiert.
Filme sind zweifellos auch der Ausdruck einer bestimmten Art und Weise die Welt zu sehen, und daraus ergibt sich ein folgenreicher Konflikt zwischen dem Filmschaffen und der Anthropologie, ein Konflikt, der auch auf die Bruchlinien zwischen Wissenschaft und Kunst verweist. Dead Birds unternimmt den erstaunlichen Versuch, sich vogelgleich über dieser zerklüfteten Landschaft in Schwebe zu halten, und genau das bringt Gardners Werk in die Nähe der Freudschen Idee einer “Urzsene”, die der psychoanalytischen Vorstellung zufolge in der seelischen Entwicklung eines jeden “Menschenkindes” stattgefunden haben soll. Dabei geht es, kurz gesagt, um eine zutiefst schockierende, zugleich aber auch höchst beglückende Seh-Erfahrung. Und dieser Urszene kommt ein höchst fragiler Status zu, denn sie schwankt zwischen einem realen Ereignis, einer strukturierten Phantasie oder einer therapeutischen Konstruktion. Das heißt anders formuliert: Selbst wenn eine solche Szene in der lebensweltlichen Wirklichkeit niemals stattgefunden haben mag, so kann sie doch ganz erhebliche Wirkungen auf die psychische Wirklichkeit auf uns als Zuseher*innen ausüben. Genau darin besteht die komplexe Verschränkung von filmischer und ethnographischer Wahrheit in Gardners Werk: Unabhängig davon, wie die Dani im Hochland von Neuguinea ihre Welt sehen, wird die Sichtweise Gardners auf diese Welt unseren Blick darauf verändern, wie Film den (anthropologisch) Anderen begegnen kann.
Vordergründig ist Dead Birds eine poetische Studie über das Leben, den Glauben, die Praktiken und die rituelle Kriegsführung der Dugum Dani im abgelegenen Grand Valley des Baliem im Hochland von West-Neuguinea. Gardner und ein kleines Team von Anthropologen der Harvard University verbrachten 1961 auf Einladung der niederländischen Regierung sechs Monate damit, Menschen zu filmen, von dem man damals annahm, dass es sich um die weltweit letzten Vertreter*innen einer neolithischen Kultur mit Steinwerkzeugen, allgegenwärtiger Magie und rituellen Kriegen handle.
Die Niederlande, unter deren Mandat sich West-Neuguinea damals befand, verbindet eine lange Kolonialgeschichte mit der zweitgrößten Insel der Welt: Bereits 1660 versucht die Niederländische Ostindien-Kompanie das rohstoffreiche Land zu besetzen, aber erst am Beginn des 19. Jahrhunderts gelingt es ihr schließlich, die koloniale Herrschaft zu befestigen. 1961, im Jahr des Filmdrehs, führt die Kolonialverwaltung in Neuguinea ein Parlament ein und beginnt mit den lokalen Administrationen über die Unabhängigkeit von Westneuguinea zu verhandeln. Vor diesem politischen Hintergrund erfolgt die Einladung an die Spezialisten aus Harvard: Bevor die indigene Bevölkerung pazifiziert werden würde, sollte ihr kultureller Zustand noch ein letztes Mal dokumentiert werden. Gardner durchkreuzt diese Pläne in gewisser Hinsicht erfolgreich und er urteilt über seine eigene Vorgangsweise so:
“Ich bin, wenn ich so sagen darf, als Künstler an die Sache herangegangen, denn ich war nie ein Wissenschaftler.”
Dementsprechend stehen visuelle Metaphern, materielle und existenzielle Prozesse, die Untrennbarkeit von praktisch-empirischem und menschlichem Drama im Mittelpunkt seines Films, aber Gardner bleibt dennoch von einem ausgeprägten anthropologischen Bewusstsein inspiriert:
“Das Ziel der Ethnographie”, schreibt Bronislaw Malinowski 1922 in seinem bahnbrechenden Werk Die Argonauten des westlichen Pazifik “ist kurzum, den Gesichtspunkt des Eingeborenen (native), seine Beziehung zum Leben zu erfassen, um seine Sicht seiner Welt zu vergegenwärtigen.”
Und so schildert Gardner im Off-Kommentar, der den gesamten Film durchwebt, den ethnographischen Kontext seiner Bilder und erklärt, was die gefilmten Personen denken und hoffen, und welche philosophischen Gedanken sie sich über den Tod machen. Gardners künstlerische Intervention kommt einem anthropologischen Sündenfall gleich: Die Gefilmten werden ihrer Stimme beraubt, der Filmemacher setzt ihnen mit seiner Erzählung seine eigenen Gedanken in den Kopf und benutzt die Gefilmten letztlich dazu, um über ‘uns’ zu sprechen und vielleicht auch über sich selbst.
“Alle Expeditionen sind zu einem gewissen Grad Invasionen”, urteilt Gardner später über seine Unternehmung: “Ihr Ziel ist in der Regel ein Ort, wo sie nicht willkommen sind. Zumeist befördern sie völlig fremde Leute und Dinge in die Umwelt, in die sie einfallen.” Und er fährt fort: “Was die Langzeitwirkung auf die Dani angeht, unterscheiden wir uns nicht wirklich von den Missionaren. Wir können nicht mit sauberen Händen gehen. Im Gegensatz zu den heiligen Unternehmungen der Missionare ist die unsere eine unheilige Unternehmung, in der die Dani ihren Weg zu verlieren beginnen, während sie unseren kennenlernen.”
Den Weg, den die Dani kennenlernen mussten, hat sie eine Abfolge von Kriegen geführt, die unvergleichlich blutiger verlaufen sind als die in Gardners Film dargestellten. Um die bevorstehende Unabhängigkeit zu verhindern, landen 1962 indonesische Truppen in Westneuginea, das ihnen kurz darauf von den Vereinten Nationen zugesprochen wird. Indonesien unternimmt großangelegte Umsiedelungsaktionen und fördert den Abbau von Bodenschätzen mit militärischen Mitteln. Nach der Machtübernahme von Suharto verschlimmert sich die Lage zusehens: In den Bergen Westneuguineas wird die größte Goldmine der Welt erschlossen, und die Dörfer des Baliem, in dem Dead Birds gedreht wurde, werden mit Napalm bombardiert. Auch nach Suhartos Diktatur nehmen die Repressionen kein Ende und 19. Februar 2023 berichtete das News Portal Free West Papua darüber, dass die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen erneut ihre ernsthaften Bedenken im Hinblick auf die anhaltende politische Gewalt in West Papua äußert. Dieser andauernden Serie von Grausamkeiten stellt Harry Tomicek in seiner vom Filmmuseum herausgegebenen Monographie über Gardner (1991) unmissverständlich fest:
“Keine Hochkultur des Morgen- und Abendlands, der Neuen oder Alten Welt hat auch nur in Ansätzen vermocht, was den von Geistern geplagten Dani in einer uns heiter erscheinen wollenden Magie des Gleichgewichts selbstverständlich von Händen geht: den Krieg zu zügeln und die Bewegung der Schlacht im Gemisch von spielerischem Ernst und ritueller Überzeugung zurückzuhalten. Je raffinierter die Kultur, je architektonischer die Zivilisation, desto reißender ihre Kriege, umso unzählbarer die Massengräber ihrer Schlachten. Die Dani, die nichts davon wissen, wie man Kriege beschließt (und es wohl nicht wissen wollen), kehren bei Regen oder spät gewordenem Licht ohne Sündenfall des Gemetzels, ohne Hybris des Kriegs, ohne Rausch der Vernichtung und ohne Katastrophe in ihre Kriegerbauern-Gehöfte zurück.”
Möge Ihnen diese Überlegung in Gardners Elegie über Krieg und Verstümmelung, Trauer und Schmerz zur Seite stehen.
Literatur
Robert Gardner (2006), The Impulse to Preserve. Reflections of a Filmmaker.
Robert Gardner / Karl Heider (1969), Gardens of War. Life and Death in the New Guinea Stone Age.
Bronislaw Malinowski (1922), Argonauts of the Western Pacific. An account of native enterprise and adventure in the Archipelagoes of Melanesian New Guinea.
Harry Tomicek (1991), Gardner, Österreichisches Filmmuseum.