Tom Waibel
Die französisch-mauretanische Koproduktion von 2002 gilt als der erste mauretanische Spielfilm überhaupt, und allein die Tatsache, dass erst Anfang des 21. Jahrhunderts ein Spielfilm in Mauretanien realisiert werden konnte, ist ein deutliches Indiz für die globalen Unrechtsverhältnisse und die kolonialen Abhängigkeiten, die über die formale Unabhängigkeit dieses westafrikanischen Staates weiterwirken.
Auf eine subtile und subjektive Art und Weise sind es auch diese Abhängigkeiten, die den Status und die Verhältnisse der Protagonist*innen von Heremakono prägen. Der Film, der sich wie schwerelos jenseits des zielgerichteten Storytellings bewegt, nimmt sich Zeit um seinen Laiendarsteller*innen beim Leben zuzuschauen. Und er verführt uns beim Zusehen mit Bildern und Sequenzen, in denen der Wind rastlos weht und in denen Fernweh und Sehnsucht nach der Heimat miteinander zu verschmelzen beginnen.
Der 17-jährige Abdallah verlässt seine Heimatstadt Bamako in Mali und besucht im mauretanischen Nouadhibou seine Mutter, während er zugleich auf eine Gelegenheit wartet, um nach Europa zu gelangen. Der kleine Fischerort auf einer Halbinsel an der Atlantikküste, der hier zu Schwelle, Kreuzungspunkt und Übergang gleichermaßen wird, ist zum Treffpunkt von vielen Flüchtlingen geworden, die allesamt darauf hoffen, von hier aus in eine neue Zukunft aufzubrechen. So verlockend, entrückt, geheimnisvoll und scheinbar zeitfrei der Film auch scheinen mag, so ist er doch eng mit den biographischen Erfahrungen des Regisseurs verknüpft. Abderrahmane Sissako erklärt in dieser Hinsicht:
„Nouadhibou ist eine Transitstadt. Man geht dorthin, um ein bisschen Geld zu verdienen, ehe man woanders hinfährt. Ich habe diese Stadt kennengelernt, bevor ich nach Russland aufgebrochen bin, wo ich an der nationalen Filmschule studiert habe.“
Und Sissako fährt fort:
„Der Aufenthalt in Nouadhibou ist immer ein temporärer. In Mali nennt man das heremakono, ‚Warten auf das Glück‘. Mich interessierte dieser Gedanke der Durchreise auf dem Weg zu einem Ort, den man vielleicht nie erreichen wird. Das Exil vor der Reise. Bevor ich meine Reise begann, war ich schon im Exil. Vielleicht besteht das Glück wirklich aus Warten.“
Sissako wurde 1961 in Mauretanien geboren. Er verbrachte seine Kindheit in Mali und studierte ab 1982 an der Filmschule in Moskau. Von diesem Studium erzählt er später, dass er sich fünf Jahre hindurch täglich mindestens drei Filme angesehen habe, aber dass kein einziger afrikanischer Film darunter gewesen sei.
Für Sissako, der heute in Paris und in Mauretanien lebt, ist das Exil ein immer wiederkehrendes Thema seiner Filme. Seine Arbeiten sind kosmopolitisch wie sein Leben und erbringen immer wieder den Nachweis, dass auch stille und experimentierfreudige Filme ebenso politisch wie künstlerisch aufrührend sein können.
Dabei bleibt Sissako auch in so poetischen Werken wie Heremakono niemals unbeteiligter Beobachter oder Auteur, sondern nimmt stets Anteil an den Schicksalen der Menschen, die er portraitiert. So finden die durchreisenden Migrant*innen eines Tages den leblosen Körper eines glücklosen Kameraden, der die Überfahrt nach Europa nicht bewerkstelligen konnte, und Sissako sagt über diesen gestrandeten Körper, der an die Stelle so viele Migrant*innen getreten ist, die auch heute jeden Tag im Meer ertrinken:
„Das Gefühl, nicht dorthin, auf die andere Seite des Ufers gelangen zu können, der menschlichen Freiheit beraubt zu sein, dieses Gefühl ist uns Afrikanern vertraut. Ein vom Meer an die Strände von Nouadhibou, Tanger oder Tarifa gespülter Körper symbolisiert die Ablehnung einer Zivilisation durch eine andere. Diese Verweigerung uns gegenüber stellt eine Form von Gewalt dar, über die man nicht spricht.“
Dinge auszusprechen, die anderswo verschwiegen werden, ist eine zentrale Motivation für Sissakos filmische Arbeit, von der er selbst sagt:
“Wenn man diesen Beruf ausübt, hat man ein tiefes Bedürfnis, Dinge zu sagen, und ich denke, der beste Weg, dies zu tun, ist, über sich selbst oder sein eigenes Umfeld zu sprechen. Das ist der beste Weg, um sich dem Anderen zu nähern.“
Literatur
Imruh Bakar, Mbye Cham (ed.), African Experiences of Cinema, London: British Film Institute 1996.
Rosalind Galt, Karl Schoonover (ed.), Global Art Cinema, New York: Oxford University Press 2010.
Jim Pines, Paul Willemen (ed.), Questions of Third Cinema, London: British Film Institute 1989.
Zu sehen im Österreichischen Filmmuseum in der Reihe “Collection on Screen: The Other”.