Text und Text-Collage: Günter Krenn
„Ein Tonfilm, der nichts anderes als eine Operette sein will, bedarf keiner Entschuldigung für die Tatsache, dass die Hauptdarsteller zwischen den gesprochenen Dialogen singen“, stellte Ernst Lubitsch 1931 zu Beginn der Tonfilmzeit fest und führte weiter aus: „Man soll nicht von Unlogik und Unwahrscheinlichkeit sprechen. Wenn man zu einer Operette ins Theater geht, nimmt man es als durchaus natürlich hin, wenn die Schauspieler ohne besondere Ursache zu singen anfangen. Man will ihre Stimmen hören, und es ist ebenso verständlich, von Schauspielern mit Gesangsbegabung im Film Gesang zu erwarten, wie man es als natürlich hinnimmt, dass Zeitungsjungen mit einem Talent zum Pfeifen auf der Straße pfeifen.“
1937 fragte man in einem Bericht über den neuen Harry-Piel-Film Sein bester Freund bereits: „Muss in jedem Film gesungen werden?“ – und verneinen ließ sich die Frage nur, weil nicht Piel, sondern der Wunderhund „Greif“ im Mittelpunkt der Reportage stand. Ein Blick in das Produktionsjahr 1937 zeigt, dass außer Vierbeinern und Harpo Marx kaum jemand an dem Thema Gesang im Film vorbeikam.
Mit der Konservierbarkeit des synchronen Tons setzte die Filmproduktion Anfang der 1930er-Jahre sofort darauf, diese nicht nur zur dramaturgischen Abrundung der Handlung werden zu lassen, sondern war viel mehr darum bemüht, das Liedhafte, den Schlager, aber auch Arien aus Operette und Oper auf die Leinwand zu bringen. Für die Interessen des Films war wesentlich: Musik sollte nicht mehr nur begleitend wirken, sondern als bestimmendes Mittel eingesetzt werden, das bei Bedarf auch vor die Handlung gesetzt werden konnte. Operettenkomponisten wie Franz Lehár waren von dem Prinzip überzeugt: „Mich hat es immer ins Kino gezogen. Ich gestehe es offen, ich besuche stets wieder eine Filmvorstellung, weil ich mich immer auf der Jagd nach neuen Stoffen und Anregungen befinde.“ Die Filmschaffenden ihrerseits adaptierten ebenfalls seit Beginn der Filmindustrie erfolgreiche Operettensujets für die Leinwand.
Operetten- und Schlagerkomponisten begannen für das neue Medium zu arbeiten, Opernsänger wie Richard Tauber oder Jan Kiepura wurden zu Leinwandstars. Der Siegeszug des Tonfilms stieß auf Begeisterung, aber auch auf heftige Ablehnung. Viele befürchteten, die kunstvolle Bildsprache des Stummfilms werde durch den inflationären Einsatz von Ton und Musik verschwinden. Schauspielkarrieren zerbrachen, viele Filmschaffende, darunter Charlie Chaplin, weigerten sich lange Zeit, für den Tonfilme zu arbeiten. Gleichzeitig entstanden frühe Meisterwerke musikalischer Unterhaltungskultur.
Textauszüge zur Tonfilmdebatte:
Max Brod: Ich liebe den Film, aber nicht den tönenden!
(Mein Film, 1929, Nr. 191)
[…] Heute ist der Film in den seltensten Fällen Kunst, – heute ist er in den meisten Fällen nur ein Gebrauchsgegenstand mit künstlerischen Elementen. In gewissem Sinn sind aber gerade Gebrauchsgegenstände das Interessanteste, für die Natur des Menschen Aufschlussreichste, was es gibt.
Doch den Tonfilm als solchen finde ich schrecklich. Ein großer Teil der angenehmen Filmwirkung beruhte doch darauf, dass jener Teil des Gehirns, der das Zuhören besorgt, ausgeschaltet war. „Ausgeschaltet“ ist nicht ganz das richtige Wort. „Eingelullt“ trifft den Sachverhalt besser. Musik war ja da, aber man hörte sie nicht. Gerade sie diente dazu, um von der Tonwelt hermetisch abzuschließen. Die Violinen des kleinen Orchesters spielten einem Watte in die Ohren. So, jetzt ist der ewig nervöse Gehörsinn neutralisiert, jetzt kann nichts mehr geschehen. Und man ergab sich dem weit weniger aufregenden Gesichtssinn, man hatte es endlich nicht mit Worten und Klängen zu tun, man deutete optische Eindrücke. Wundervolle Naturszenerien. Es war so, als ginge man in einem ganz stillen Walde spazieren. So still, dass nicht einmal die Wipfel rauschen. Dabei bewegen sie sich wütend im Sturm. Aber lautlos, wie durch Zauber entlärmt. Auf diesem kleinen Teilgebiet des Lebens hatte die sonst so erfolglose Anti-Lärm-Liga einen Sieg zu verzeichnen.
Jetzt hört das auf. Man wird nicht mehr ins Kino gehen können, um seinen Kopf ausruhen zu lassen. Man wird nun auch hier voll beansprucht werden. Vielleicht wird sogar etwas Ähnliches wie Zeitlupe oder Zeitraffer erfunden werden. Man wird alles Poltern, Klopfen, Rattern – oder die Art, wie ein Star das Wort „Liebe“ ausspricht – in die einzelnen Zeitpartikelchen analysieren und zerdehnen, dadurch umso eindringlicher machen; oder den Straßenlärm durch Zeitverkürzung zu unerträglicher Intensität auftürmen. Sehe ich jetzt einen der guten, stillen Filme, wie sie heute noch laufen, so ist es mir, als trügen sie schon das Todesmal, wie ein Wasserzeichen huscht es über sie hin, das Schluß, Abschied symbolisiert. Die Leute rühren tonlos ihre Lippen. Wie interessant dieses bewegte Stillschweigen! Ganz abgesehen davon, dass der Verzicht auf das Wort eine Kunstform begründete, die ihre eigenen selbständigen Gesetze (neben denen des Theaters) ausbildete, Gesetze einer immer virtuoser gesteigerten Photographie, der losgelösten Optik, die alles ausdrücken musste – ganz abgesehen von diesem mehr theoretischen Standpunkt: war es denn in Praxis nicht unendlich sympathisch, dass man nicht alles wusste, daß man gelegentlich mitzudichten, die Situation auszuschmücken begann. Dieser Hauptreiz des Films, das Vage, Mehrdeutige wird wegfallen. […]
Chaplin Charlie: Der Tonfilm und ich!
(Mein Film, 1929, Nr. 208)
Ich muß bekennen, dass mich die neue Kunstform des Films fasziniert, dass sie mich aber gleichzeitig ärgert und sehr erschreckt. Dabei bin ich überzeugt davon, dass der tönende Film zur ständigen Form werden wird, doch glaube ich, dass man neue und andere Ausdrucksmittel als bisher finden wird. Die Sache selbst ist so neu, dass nur wenig Leute bisher ihr Wesen erfasst haben. Viele, die am tönenden Film arbeiten, haben freilich völlig unkünstlerische Arbeit geleistet. Im Sprechfilmdrama versucht man jetzt die Überlieferung des Theaters mit dem Realismus des Films zu verheiraten und das Resultat ist ein illegitimes Kind.
[…] Man darf keinesfalls glauben, dass ich es vorläufig aus persönlicher Furcht vermeide, selbst im Film zu sprechen. Ich war doch jahrelang Bühnenschauspieler, aber ich wünsche nicht die Beredsamkeit und die Schönheit des stummen Ausdrucks für einen gesprochenen Titel aufzugeben. Der gedruckte Titel ist noch immer beredtster Ausdruck. Er ist sichtbar wie das Filmbild und hat seine eigene Wirkung auf das Publikum, und ich werde ihn immer noch anwenden, wenn es notwendig ist. Sicher erscheint mir, dass der tönende Film in seiner neuen künstlerischen Form, in der harmonischen und logischen Verbindung von stummer Szene und Musik, jenen Stil finden wird, der am wirkungsvollsten ist und beim Publikum ganz neue Eindrücke schafft.
Pietro Mascagni: Tonfilm und Oper
(Kino Journal, 26. Oktober 1929, Nr. 1004)
[…] Fast alle großen Sänger, Musiker und Schauspieler haben gelegentlich die Verbindung mit dem Film aufgenommen – weshalb sollten wir das nicht zur Regel machen? Viele Kunstrevolutionen sind von Amerika ausgegangen und haben schließlich auch Einlaß in Europa gefunden. Da jetzt der Singfilm in den Vereinigten Staaten mehr und mehr an Boden gewinnt, und da sich große Künstler wie Schaljapin und Tita Ruffo in Amerika vertraglich zur Mitwirkung an Tonfilmen verpflichtet haben, dürfen wir nicht länger beiseitesehen. Wir müssen sehen, ob sich die neue Erfindung nicht für die Oper nutzbar machen läßt.
Daß es soweit kommen mußte, ist vom künstlerischen Standpunkt und vom Standpunkt der stilvollen Tradition europäischen Kunstlebens vielleicht zu bedauern. Amerika ist von dergleichen überlieferten Hemmungen unbelastet und kann unbekümmert experimentieren. Dürfen wir es auch? Von den Möglichkeiten der wahrhaft wunderbaren Erfindung des Tonfilms habe ich persönlich den denkbar stärksten Eindruck. Die Klangfarbe ist so täuschend echt, daß das Tonfilm-Konzert von einem wirklichen Konzert kaum zu unterscheiden ist. […]
Joe May: Diktatur des Tonfilms?
(Mein Film, 1929, Nr. 208)
[…] Wir wissen, dass der Sieg des Tonfilms den stummen Film nicht verdrängt. Aber dieses Wissen lässt uns keineswegs festkleben. Neben der Freude, die wir an unseren stillen Schauspielern hatten und haben werden, empfinden wir einen mindestens ebenso reinen künstlerischen Genuss bei der Arbeit am tönenden Film. […] Der Tonfilm regiert über die gesamten seelischen Strömungen von Darstellung und Regie. Wie sollte das geschafft werden, wenn nicht zuvor eine genaue Kenntnis der Arbeit an einem stummen Film in uns verwurzelt ist? Wäre es nicht so, es wäre ein kaum auszugleichender Mangel. Man würde dem Tonfilm gegenüberstehen, wie wir vor dem Kriege dem stummen Film gegenüberstanden.
Diktatur des Tonfilms? Zu allen Zeiten gab es Diktatur. Beim Film nicht anders als auf dem Theater. Der ideologische Versuch des Ständeausgleichs hat selten Erfolg gehabt. Immer setzte sich irgendwie die Diktatur durch. Zunächst die des Schauspielers (Talma bei der Bühne – Asta Nielsen beim Film), dann die des Kulissenmeisters (Tairov auf der Bühne – Caligari im Film) und endlich die des Regisseurdramaturgen. (Das wird der Tonfilm lehren!) […]
Henny Porten: Der kommende Film
(Das Kino-Journal, 8. September 1928, Nr. 945)
Wenn der Tonfilm bedeutet, daß uns das Sprechdrama voller Natürlichkeit, d.h. mit dem vollständig gesprochenen Text des Autors auf der Leinwand erscheinen soll, so würde ich darin nicht nur keinen Fortschritt, sondern eher eine Beeinträchtigung des ureigensten Wesens des Films erblicken. Obwohl der heutigen Filmkunst das eindrucksvolle Moment der Sprache mangelt, besitzt der moderne Film sehr viele wirkungsvollere mimische Ausdrucksmöglichkeiten als das Sprechdrama. Ihm gelingt es meinem Empfinden nach, seelische Regungen mimisch oft besser auszudrücken, als es Worte zu tun vermögen. Und sind wir nicht gerade im Augenblick tiefster Ergriffenheit stumm, fehlen uns nicht im Moment höchsten Staunens im wahrsten Sinne die Worte? Infolge seiner Stummheit zwingt der Film den Zuschauer – und zwar selbst den primitivsten Zuschauer – sich in seinem Geist einen Dialog zurechtzulegen, der zwischen den handelnden Personen stattfindet. Daher regt der stumme Film an und macht den Beschauer oft ganz von selbst zum Dichter…
Asta Nielsen: Der Wert des Films
(Das Kino-Journal, Nr. 678)
[…] Die Aufgabe für alle, Dichter, Schauspieler, Regisseur, ist ungeheuer sicher; denn stumm drückt sich nur das Tiefste, Lauteste, Beseelteste in uns aus. Die Worte können vieles verdecken; die Stummheit offenbart jede, noch die kleinste Lüge. Die Lüge bedarf immer einer Krücke; des gesprochenen Wortes: ein Gesicht, das spricht, kann lügen; ein Gesicht das schweigt, kann, in des Wortes eigentlicher Bedeutung, niemals lügen, d.h. es kann niemals mehr aus sich herausholen, als in ihm, hinter ihm, im Menschen selbst, liegt. Darin sehe ich den ungeheuren Vorzug, aber auch die ungeheure Schwierigkeit des Filmes; der Film ist Leben, er steht dem wirklichen, schwingenden Leben und Erlebnis näher als jede andere Kunst.
Liane Haid: Tonfilmgefahren für den Schauspieler
(Kino-Journal, 28. Dezember 1929, Nr. 1013)
Wir ersten Tonfilmschauspieler sind, strenggenommen, die Opfer des Tonfilms. Wir sind das Experiment, das Probiertier für die Gefahren. Merkwürdig: jede Kunstart fängt immer wieder von vorne an, macht die Kinderkrankheiten ihrer Vorgängerin durch. Der stumme Film begann wie Theater für kleine Kinder, manche Tonfilme heute muten künstlerisch an wie Kuriositäten aus der Anfangszeit des stummen Filmes. Die gefährlichste Klippe des Tonfilms; die große Geste, das opernartige Pathos, das Zuviel in der Sprache. Er springt in solchem Fall die ganze künstlerische Entwicklung von Theater und Film aus den letzten zwanzig Jahren wieder zurück, wiederholt alle überwundenen Perioden. Glücklicherweise ist das technische Instrument des Tonfilmes gescheiter als manchmal die Menschen, die sich heute als Anfänger an ihm probieren; der Tonfilmapparat streikt, wenn zu viel Pathos gemacht wird, wenn zu viel in großen Tonschwankungen, himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt, geredet und deklamiert wird. Alle Exzesse dieser Art, allen Überschwang, verwandelt er boshaft und kritisch in Fauchen und Mißgetön. […] Jeder hat sehr viel verschiedene Arten, zu sprechen. Es ist darum eminent schwer, nach Aufnahmeunterbrechungen, die oft Tage und Wochen, manchmal Monate dauern, genau auf demselben Sprechniveau, im selben Klang, in derselben Tonnuance wieder anzuknüpfen. Das alles ist dem Laien sicher kaum aufgefallen, für den Tonfilmschauspieler bedeutet es ein martervolles Spezialstudium. […]
In dem Vortrag „Muss in jedem Film gesungen werden?“ wird eine Zeitreise unternommen, in der das Publikum aus einer Zeit der tonalen Reizüberflutung in eine Epoche zurückgeführt wird, in der die Entwicklung von Stumm- zum Tonfilm unsere Hörgewohnheiten für immer veränderte.
„Muss in jedem Film gesungen werden?“
Begleitveranstaltung zur Ausstellung „100% Schlager. Wiener machen Schlager 1918-1938“ in der Wienbibliothek im Rathaus
21. Februar 2019 um 17:00 Uhr