13 Confusions / 13 Verwechslungen

Dieses Pamphlet von Amos Vogel erschien zunächst in Evergreen Review, Vol. 11, No. 47, Juni 1967, und wurde wiederabgedruckt in: The New American Cinema, a critical anthology, hgg. von Gregory Battcock, New York: E.P. Dutton 1967.


Nach zwei Jahrzehnten von Bedeutungslosigkeit, Armseligkeit, stupider Verachtung und verbissener Beharrlichkeit leidet die amerikanische Filmavantgarde heute zum ersten Mal in ihrer Geschichte an einer gefährlichen neuen Entwicklung: an übertriebener Anerkennung ohne Verständnis und übermäßiger Zustimmung ohne Kritik. Ihr größtes Verbrechen besteht darin, dass sie in Mode gekommen ist. Ihre Gurus und Künstler*innen laufen Gefahr, zum Establishment der Avantgarde zu werden, und ihr wachsender Ruhm verbirgt nur notdürftig eine innere Schwäche. In den folgenden Betrachtungen geht es darum Verwechslungen zu vermeiden; sie sind eine Kritik von innen heraus und sind sich der zahlreichen Errungenschaften der Bewegung vollauf bewusst.

Diese Errungenschaften zeigen sich nicht nur in den vielen Talenten und Werken, die entdeckt und gefördert wurden, sondern auch in der fortwährenden kreativen “Entweihung” des Mediums, die nichts verschont und nichts als gegeben gelten lässt. In den Händen der bedeutendsten Vertreter*innen der Bewegung wird das Filmmaterial zerstört, zerlegt, gestreichelt und in einem Rausch von leidenschaftlicher Liebe in Besitz genommen; weder Emulsion, Belichtung, Beleuchtung, Filmgeschwindigkeit, Entwicklung, noch Regeln für Schnitt, Kamerabewegung, Komposition oder Ton sind vor dem Ansturm dieser poetischen Experimentator*innen sicher, die das Medium unwiderruflich unterwandert haben. Während man den meisten kommerziellen Filmen bedenkenlos mit geschlossenen Augen folgen kann, zwingen diese Werke die Zuschauer*innen dazu, die Augen weit zu öffnen, und machen sie damit wehrlos den magischen Kräften des Mediums gegenüber.

Die amerikanische Avantgarde ist Teil eines lebhaften internationalen Trends zu einem visuell orientierteren, freieren und persönlicheren Kino. Diese Bewegung ist Ausdruck einer Revolte gegen die Verknöcherung der Institutionen und den Konservatismus des Alten. Sie steht für ein Kino der Leidenschaft. Durch die Wiederherstellung des Vorranges des visuellen Elements bringt uns diese Bewegung mit der Qualität des Mediums in Berührung, dem tiefen und unerklärlichen Geheimnis des Bildes.

Thematisch, stilistisch und ideologisch spiegeln die Filme dieser Strömung eine Ära des sozialen Wandels, der Orientierungslosigkeit und des Niedergangs wider und sind durchdrungen von einem existenzialistischen Humanismus frei von Gewissheit und Illusionen. Befreit von der Kunst des 19. Jahrhunderts ersetzen sie realistische Erzählstrukturen, klar definierte Handlungen und fest umrissene Charaktere zunehmend durch visuelle Mehrdeutigkeit und poetische Komplexität, wobei sie Ideen und Formen vertikal erforschen, anstatt Ereignisse horizontal zu illustrieren. Es gibt starke Einflüsse des Surrealismus, des Neo-Dadaismus, der Pop Art, des “absurden” Theaters und des Theaters der Grausamkeit, von Robbe-Grillet und dem neuen Roman. Die Regeln des Filmemachens aus dem Lehrbuch wurden außer Kraft gesetzt. Der Schnitt ist explosiv, elliptisch und unvorhersehbar; die Kamerabewegungen sind fließend, vielfältig und frei; Zeit und Raum werden ineinandergeschoben, zerstört oder ausgelöscht; und Erinnerung, Realität und Illusion verschmelzen, bis wir blitzartig begreifen, dass die Gesamtheit dieser Ungewissheiten und Brüche nichts Geringeres widerspiegelt als die moderne Weltsicht in Philosophie, Wissenschaft, Kunst und Politik. Die fragenden, wissbegierigen Filmemacher*innen – selbst gequält von den Ängsten und begrenzten Weisheiten, die sie porträtieren – sind die engagierten Künstler*innen der sechziger Jahre, die wahren Entdecker*innen unserer Zeit.

Doch die amerikanische Avantgarde scheint an einem Scheideweg angekommen zu sein. Einerseits hat sich die Saat, die durch Frank Stauffachers “Art in Cinema”-Reihe und Maya Derens Vorführungen in den vierziger Jahren gesät wurde ebenso wie durch die Programme des Cinema 16 in den Jahren 1947-1963, in eine eigenständige und weithin sichtbare Bewegung verwandelt. Es gibt eine unaufhörliche und umfangreiche Produktion, neue Vorführmöglichkeiten, Schulen, Kunstzentren und Initiativen, die sich für den “Underground” stark machen, Diskotheken und Cafés, die filmorientierte Mixed-Media-Techniken einsetzen, sowie Zeitschriften und Fernsehkanäle, die für eine breite Öffentlichkeit sorgen. Diese neue Phase ist das unbestrittene Verdienst von Jonas Mekas und der Gruppe des “New American Cinema.”

Auf der anderen Seite ist aber auch bei den Freund*innen und Befürworter*innen der Bewegung eine gewisse Skepsis festzustellen. Zu viele der Filme sind unbefriedigend, auch wenn man sich noch so sehr bemüht, ihre kleinen Vorzüge wohlwollend herauszustellen. In Filmkreisen ist es kein Geheimnis, dass die Zuschauer*innenzahlen in der Film-Makers Cinematheque in New York nach allem Wachstum und aller Aufmerksamkeit abflachen. Dazu tritt das Paradoxon einer hohen Produktivität mit wenig neuen Talenten, einem zunehmenden Mangel an Glaubwürdigkeit, aufgrund der Differenz zwischen den hauseigenen Medien der Bewegung und der sichtbaren filmischen Qualität, sowie dem Fehlen einer wirklichen Lösung des entscheidenden Vertriebs- und Vorführproblems, trotz aller neuen und lobenswerten Versuche. In dem Maß, in dem sich der schale Geschmack von Schwierigkeiten bemerkbar macht, wird der evangelikale Eifer der Anführer der Bewegung immer eindringlicher, und die Manifeste und Exorzismen weisen immer weniger Scharfsinn auf.

Der Beginn einer fundierten Kritik der amerikanischen Avantgarde (und darin insbesondere der Ideologie und des Stils der Strömung des New American Cinema) ist ein Akt der größten und dringlichsten Loyalität gegenüber dieser Bewegung. Es ist an der Zeit, sie vor der blinden Ablehnung der kommerziellen Rezensent*innen und der blinden Akzeptanz ihrer eigenen Apostel zu retten, die sich beide gleichermaßen als Kritiker*innen ausgeben und sie keiner sachlichen, differenzierten Analyse unterziehen.

13 Confusions / 13 Verwechslungen

This pamphlet by Amos Vogel first appeared in Evergreen Review, Vol. 11, No. 47, June 1967 and was reprinted in The New American Cinema, a critical anthology edited by Gregory Battcock, New York: E.P. Dutton 1967, pp. 124-138.


After two decades of obscurity, poverty, ignorant rejection, and dogged persistence, the American film avant-garde suffers today, for the first time in its history, from an ominous new ailment: over-attention without understanding, over-acceptance without discrimination. Crime of crimes, it has become fashionable. Its gurus and artists are in danger of becoming the avant-garde establishment; its growing fame hides only imperfectly an inner weakness. The following observations, aimed at the removal of confusions, represent a criticism form within, fully cognizant of the movement’s many achievements.

These lie not merely in the many talents and works it has discovered and championed, but in its continuing creative “desecration” of the medium, leaving nothing undisturbed, taking nothing for granted. In the hands of the movement’s foremost practitioners, film is sacked, atomized, caressed, and possessed in a frenzy of passionate love; neither emulsion, exposure, lighting, film speeds, developing, nor rules of editing, camera movement, composition, or sound are safe from the onslaught of these poetic experimentalists who have irrevocably invaded the medium. While most commercial films can safely be followed with one’s eyes closed, these works force spectators to open them wide, thereby rendering them defenseless against the magic powers of the medium.

The American avant-garde is part of a strong international trend toward a more visually-oriented, freer, more personal cinema. This movement expresses a revolt against the ossifications of institutions and the conservatism of the old. It represents a cinema of passion.

By restoring the primacy of the visual element, this movement brings us face to face with the essence of the medium, the profound and inexplicable mystery of the image.

Thematically, stylistically, and ideologically, the film belonging to this tendency reflect and prefigure an era of social change, disorientation, and decline, and are suffused with an existentialist humanism devoid of certainty or illusion. Liberated from nineteenth-century art, they increasingly displace realistic narrative structures, clearly defined plots, and well-delineated characters by visual ambiguity and poetic complexity, exploring ideas and forms vertically instead of illustrating events horizontally. There are strong influences of surrealism, neo-Dadaism, Pop Art, the “absurd” theatre and the Theatre of  Cruelty, Robbe-Grillet and the new novel. Textbook rules of filmmaking have been abandoned. Editing is explosive, elliptic, unpredictable; camera movements fluid, frequent, and free; time and space are telescoped, destroyed, or obliterated and memory, reality, and illusion fused, until, in a flash of revelation, we realize that the totality of these uncertainties and discontinuities reflect nothing less than the modern world view in philosophy, science, art, and politics. The questioning, white-hot filmmakers – themselves anguished configurations of the anxieties and limited wisdoms they portray – are the committed artists of the sixties, the true explorers of our day.

But the American avant-garde seems to have arrived at a crossroads. On the one hand, the seeds planted by Frank Stauffacher’s “Art in Cinema” series and Maya Deren’s screenings in the forties, als well as Cinema 16’s programs of 1947-1963, have been transformed into a full-blown, highly visible movement. There are unceasing, voluminous productions; new exhibition outlets; schools, art centers, and civic groups clamoring for the “underground”; discotheques and coffee-houses utilizing film-oriented mixed-media techniques; mass circulation magazines and television providing widespread publicity. This new stage remains the undeniable achievement of Jonas Mekas and the “New American Cinema” Group.

On the other hand, however, there now exists a certain wariness concerning the movement even among its friend and supporters. Too many of the films are unsatisfactory, even with the greatest of efforts at a sympathetic magnification of their small virtues. In film circles, it is no secret that, after all the growth and publicity, audiences at the Film-Makers Cinematheque in New York are leveling off. To this must be added the paradox of voluminous productivity and little new talent; the growing credibility gap between the movement’s house organs and observed filmic quality; the absence, despite new and laudable attempts, of any real resolution of the crucial distribution and exhibition problem. As the faint odor of trouble becomes more noticeable, the evangelical ardor of the movement’s leaders become more insistent, the manifestos and exorcisms less circumspect.

To begin the process of an informed critique of the American avant-garde (and more specifically, the ideology and style of the New American Cinema tendency within it) is an act of the highest and most necessary loyalty to the movement. The time has come to rescue it from the blind rejection of commercial reviewers and the blind acceptance of its own apostles; both posing as critics and neither subjecting it to dispassionate, informed analysis.