Tom Waibel
Wir haben in der Reihe “RISE UP! Kino und (De)Kolonialität” in vier Kapiteln und acht Filmen Werke aus aller Welt daraufhin befragt, welche Formen und Anliegen in der Lage sind, den Filmbildern jene Mächte zu erschließen, derer es bedarf, um das Kino als Ganzes und die (visuellen) Kulturen im Besonderen zu dekolonialisieren. Am Ende dieser ausschweifenden Untersuchung wird mit Chris Markers Sans Soleil (Unsichtbare Sonne) von 1983 die Erinnerung selbst auf ihre Koloniale Verfasstheit hin befragt.
„Der Wahnsinn schützt,“ heißt es mitten in Sans Soleil, und „das Fieber auch…“
In einer Kaskade von Bildern, selbstgedrehten und vorgefundenen, auf einem Trip durch das moderne Japan, mit Exkursionen nach Guinea-Bissau oder Island, San Francisco oder Paris, misst dieser Film das Terrain des menschlichen Gehirns aus, seine Denk- und Erinnerungskapazitäten, und die Produktivkraft der Imagination. Dabei werden die Elemente der politischen Ordnung neu verhandelt: Gesellschaft und Anarchie, Faschismus und Sozialismus, Krankheit und Gesundheit, Rationalität und Phantasie, Dokument und Fiktion – in einer Reflexivität, der kein Tabu zu sakrosankt, keine Utopie zu kühn ist. Eine Bilderflut wie ein kreatives Fieber oder ein kreativer Wahnsinn.
Sans Soleil aus dem Jahr 1983 ist ein Wendepunkt im Werk von Chris Marker, und ein Wendepunkt in der Geschichte des Kinos. Von dem Film geht eine Bewegung aus, die in die Zukunft und in die Vergangenheit gleichermaßen weist. Fritz Göttler meinte, dass es nach Sans Soleil unmöglich sei, Filme zu machen, wie man es bislang getan hatte, und dass es genauso unmöglich sei, Filme in einer Art und Weise zu betrachten, wie man das bislang gewohnt war. Als Sans Soleil bei der Berlinale 1983 vorgestellt wurde, schwärmte der Regisseur Edgar Reitz:
„Endlich eine filmische Sprache, die ihre Themen nicht verwaltet, sondern zum Schweben bringt. Die Sprache ist hier nicht Kommentar wie im Dokumentarfilm oder Fernsehfilm… Dieser Film ist etwas Drittes, ist nicht die Summe von Bild und Sprache, sondern er entsteht zwischen diesen von den Sinnen wahrnehmbaren Ereignissen. Hier ist Film etwas Unsichtbares, Unhörbares, ein Phänomen der Interferenz von Bildern und Sätzen, wie ich das in dieser Form noch nie gesehen habe.“
Michael Omasta legt in der aktuellen Ausgabe der Stadtzeitung Falter den Film zum Wiedersehen nahe – mit den Worten:
„Ein Essay über die Wirkmacht des visuellen Gedächtnisses, das Ende des Kolonialismus, kurz: eine Geschichte des Anthropozän.“
Ein Essay also; aber was ist ein Essay-Film, wie funktioniert er, und was will er?
Allgemein gesprochen, nimmt der Essayfilm die Herausforderung an, seinen filmischen Äußerungsmodus mit Hilfe einer poetischen Artikulation von Fakten mitzudenken, und die bildhafte Darstellung der Realität durch die Reflexion seiner eigenen, radikalen Subjektivität zu vermitteln. Frieda Grafe formulierte die Sache in der ihr eigenen pointierten Art und Weise so:
„Der Essay-Film ist der Autorenfilm des Dokumentarfilmgenres.“
Theodor W. Adorno wiederum dachte die essayistische Form als etwas Teppich-haftes und charakterisierte sie so:
„Der Gedanke schreitet nicht einsinnig fort, sondern die Momente verflechten sich teppichhaft. Von der Dichte dieser Verflechtung hängt die Fruchtbarkeit von Gedanken ab.“
Offenbar geht es dem Essay-Film also darum, Denkbilder zu knüpfen und Bild und Denken miteinander bis an jene Grenze zu verdichten, die sich im Denken nicht denken und im Sehen nicht sehen lässt. Auch wenn dieses Anliegen in gewisser Weise an Fieber und Wahnsinn erinnert, so vermutete Gilles Deleuze darin doch das Wesen des Kinos, als er erklärte:
„Aber das Wesen des Kinos, das nicht die Allgemeinheit der Filme ist, hat als oberstes Ziel das Denken und nichts anderes als das Denken und seine Funktionsweise.“
Wenn wir also versuchsweise annehmen, dass im Essay-Film Denken zum Ausdruck gebracht werden soll, und danach fragen, was für eine Art von Denken hier wie artikuliert wird, stoßen wir auf eine überraschende Entdeckung: Denn die Art und Weise, in der in Sans Soleil gedacht wird, befindet sich im allergrößten Widerspruch zu den Regeln der abendländischen Wissenschaft, die René Descartes in seinem Diskurs über die Methode (Discours de la méthode) 1637 am Beginn des modernen europäischen Denkens aufgestellt hatte. Sehen wir uns die Sache in aller Kürze an: Die erste der vier Cartesischen Regeln Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung besagt,
„niemals eine Sache als wahr anzuerkennen, von der ich nicht evidentermaßen erkenne, daß sie wahr ist.“
Offensichtlich will Sans Soleil davon nicht das Geringste wissen. Zweifelsfreie Gewissheit spielt hier nicht einmal eine Nebenrolle, und sollte es Marker doch irgendwie um Wahrheit gehen, dann bestimmt nicht als eine Suche nach der Wahrhaftigkeit von Evidenz, sondern als eine Analyse der Wirkmächtigkeit von Wahrheitskonstruktionen. Descartes’ zweite Regel fordert,
„jedes Problem, das ich untersuchen würde, in so viele Teile zu teilen, wie es angeht und wie es nötig ist, um es leichter zu lösen.“
Aber Sans Soleil fragt nicht einfach nach dem Ganzen und seinen Teilen, sondern nach den bestehenden, möglichen und unmöglichen Wechselwirkungen, für deren Untersuchung weder das Ganze noch die Teile als vorausgesetzt gelten dürfen. Die dritte Regel gebietet,
„in der gehörigen Ordnung zu denken, d.h. mit den einfachsten und am leichtesten zu durchschauenden Dingen zu beginnen, um so nach und nach, gleichsam über Stufen, bis zur Erkenntnis der zusammengesetztesten aufzusteigen.“
In Sans Soleil wird insbesondere diese Regel gründlich auf den Kopf gestellt, weil sich sein essayistisches Denken ja erst in der Begegnung mit dem Komplexen und Zusammengesetztesten entzündet. Die letzte Regel will uns schließlich dazu verpflichten,
„überall so vollständige Aufzählungen und so allgemeine Übersichten aufzustellen, daß ich versichert wäre, nichts zu vergessen.“
Aber nichts wäre verkehrter als von Sans Soleil Vollständigkeit und Allgemeinheit zu erwarten, denn schließlich bewegt sich der Film in Intervallen, Übergängen und Brüchen, um sich auf diese Weise dem Ausdruck einer brüchig gewordenen Realität der Welt anzuschmiegen.
Der vor wenigen Tagen verstorbene Großmeister des literarischen Essays, Hans Magnus Enzensberger, hatte einst erklärt, dass der Essay der Außenseiter par excellence sei. Und als dieser Außenseiter praktiziert der Essay – sowohl im Film als auch im Buch – das Migrieren und Vagabundieren, das Herumstreunen und Flanieren. Chris Marker prägt in Sans Soleil dafür den Begriff der Drift und der Abdrift, und meint damit jene seitliche Suchbewegung, zu der wir gezwungen sind, wenn uns der Gegenwind ins Gesicht bläst…
Sans Soleil hat seit seinem Erscheinen die Kritiker*innen zu wilder Spekulation und erstaunlichem Aberwitz verlockt, und diese Zeilen legen Zeugnis dafür ab, dass auch ich mich der Sogwirkung des Wahnsinns und des Fiebers nicht völlig entziehen konnte. Daher zwinge ich mich zum Abschluss dazu, einen Kontrapunkt zu setzen, und den entrüsteten Kommentator der New York Times zu Wort kommen zu lassen, der nach der US-Premiere festgestellt hatte:
„Sans Soleil ist ein völlig selbstverliebter Film, der alle außer die treuesten Marker-Schüler*innen komplett ausschließt.“
Literatur
Theodor W. Adorno, Der Essay als Form, in: Schriften II, Suhrkamp: Frankfurt/Main 1974.
Vincent Canby, New York Times, 26. October 1983.
Gilles Deleuze, Das Zeit-Bild. Kino 2 (1985), Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997.
René Descartes, Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung (1637), Hamburg: Meiner 1978.
Fritz Göttler, Süddeutsche Zeitung, 31.7.2012
Frieda Grafe, Der bessere Dokumentarfilm, in: Blümlinger/Wulf, Schreiben, Bilder, Sprechen, Wien 1992.
Birgit Kämper und Thomas Tode, Chris Marker. Filmessayist, München: CICIM 1997.
Sven Kramer und Thomas Tode, Der Essayfilm. Ästhetik und Aktualität, Konstanz: UVK 2011.
Chris Marker, Sans Soleil. Vollständiger Text zum gleichnamigen Film-Essay, Wien: Stadtkino 1984.
Michael Omasta, Lexikon/FALTER 47/2022.
Edgar Reitz, Medium, 4/1983.
Christina Scherer, Ivens, Marker, Godard, Jarman. Erinnerung im Essayfilm, München: Fink 2001.