Ansichten und Absichten im Rückspiegel

Zu Steven Spielbergs 76. Geburtstag (18. Dezember 2022) und zum Screening von Duel (1972) als Abschluss der Collection on Screen: “Film ist eigentlich nicht politisch” zum Buch: Drehli Robnik: Ansichten und Absichten. Texte über populäres Kino und Politik (Hg. Alexander Horwath) in der Reihe FilmmuseumSynemaPublikationen, 2022

Einführung von Drehli Robnik gehalten im Österreichischen Filmmuseum am 18. Dezember 2022

Wir sehen nun Duel – Duell, den ersten industriellen full-length feature film von Steven Spielberg. Spielberg hat genau heute seinen 76. Geburtstag. In meinem Buch Ansichten und Absichten geht es zwar nicht um Duel, sondern um andere Spielberg-Filme. Aber Duel hat für ein Sonntags-Screening eine angenehmere Länge als Saving Private Ryan und Lincoln, um die es in meinem Buch geht, und Jaws – Der weiße Hai, um den es auch geht, ist wegen Re-Release gesperrt. Außerdem enthält Jaws als einer der wenigen Spielberg-Filme ein bestimmtes Objekt, ein bestimmtes Motiv, NICHT, auf das ich jetzt kurz fokussieren möchte. Einige Worte also zu Spielberg (und Fabelman), zu Duel, zum Kino und zu Politik.

Duel existiert als Film doppelt; das passt gut zu seinem Titel. Nach seinem Erfolg als Fernsehfilm Ende 1971 wurde 1972 vor allem auf europäischen Märkten eine Kinofassung in Umlauf gebracht, die heuer 50 Jahre alt ist. Das ist diejenige Fassung, die die meisten von uns von Kino, TV, DVD oder Files kennen. Sie wurde für den Kinoeinsatz um 16 Minuten verlängert; hinzugekommen sind etwa die Szenen mit dem Telefonat mit der Ehefrau, die Szene mit dem Schulbus und die mit dem Bahnübergang.

Telefon, Bus, Bahn… Vorrangig geht es in Duel natürlich um zwei Autos. Nun ist allerdings Spielberg eigentlich weniger ein Regisseur des Auto-Mobils, des sich in Bewegung in den Raum entwerfenden Selbst, kein Raum-Regisseur, sondern eher ein Regisseur dessen, was bleibt, und zwar in der Zeit. (Die Anekdote am Ende von Spielbergs aktuellem autobiografischem Film The Fabelmans, in der der alte John Ford dem jungen Spielberg erklärt, dass er in der Kadrage den Horizont immer ganz oben oder ganz unten ansetzen muss, diese Anekdote ist vor allem ebendas – eine Anekdote, etwas, das als Erzählenswertes bleibt. Spielberg ist niemand, der mit oder bei dem Raum-Horizont viel umgeht.)

Also: Was in der Zeit bleibt. Zeit als Spaltung in das, was vorüberzieht, und das, was bleibt. Wir sind schon nah an einer möglichen Definition von Kino. Aber bleiben wir beim Auto in Duel und dem, was bleibt. Bzw. bei dem, was vom Auto in Duel bleibt, in nachfolgenden Spielberg-Filmen. Was vom Auto bleibt, um noch einmal anekdotisch zu reden, was zumal von dem dunklen Verfolger-Truck bleibt, sind zwei markante Eigenschaften dieses Monsters, die auf das noch prominentere Monster in Spielbergs übernächstem Film Jaws übergegangen sind: Das ist zum einen ein markanter brüllender Sound, den der Truck am Ende von Duel macht; den hat Spielberg 1:1 als Sound für das Ende von Jaws, für den in die Luft gesprengten weißen Hai, wiederverwendet. Das ist zum anderen eine Sammler-Tätigkeit, die der Truck mit dem (bzw. mit dem im Film zunächst erlegten) Hai teilt, nämlich das Fressen und Mit-sich-Tragen von Autokennzeichen, Mit-sich-Tragen im Hai-Magen oder als dekorative Beutestücke auf der Truck-Karosserie.

Was vom Auto bleibt, ist weiters dessen Funktion als Lichtquelle, als Scheinwerfer. In Duel spielen Scheinwerfer unmittelbar keine große Rolle. Aber schon bald tun sie das, in Close Encounters of the Third Kind, in der ersten Begegnung mit einem UFO, in der die UFO-Lichter mit den headlights eines vorbeifahrenden Autos verwechselt werden, auch von uns. Und in The Fabelmans, da hat Spielberg jetzt gewissermaßen eine Signatur vorgelegt, eine sehr sentimentale und ödipale Signatur, dafür, dass die kategorische Wundermaschine in seinem Kino nicht die Bewegungsmaschine, sondern die Lichtmaschine ist, somit das Auto als Lichtquelle. Ich meine die Szene vom Familien-Camping-Ausflug, in der das Auto der Fabelmans, dessen Scheinwerfer vielmehr, als Lichtquelle dient für eines der vielen beleuchteten, mit Licht überfluteten Quasi-Sets, die in Spielbergs Filmen als solche vorkommen: Die schrullige, hochmusikalische Mutter Fabelman, gespielt von Michelle Williams, tanzt im Seidennachthemd vor ihrer Familie ein graziöses Ballett, und die Kinder weisen sie darauf hin, dass ihr Nachthemd im Scheinwerferlicht ganz transparent ist. Der Scheinwerfer auf der Tanzbühne der gänzlich sichtbaren Mutter kommt hier vom kleinbürgerlichen Familien-Auto. Andere Spielberg-Sets, die mit Scheinwerfern vollgestellt und von Licht durchflutet sind, sind notorisch mit nationalsozialistischer Vernichtungsgewalt assoziiert, so etwa gegen Ende von Schindler’s List oder, vorbildhaft dafür, in der Szene mit der rituellen, verbotenen Öffnung der Bundeslade im ersten Indiana Jones-Film – wo dann anstelle von Mitzi Fabelman eine Art Medusa ihr betörend-obszönes Ballett tanzt (und Nazi-Gesichter, die ins Licht geschaut haben, zum Schmelzen bringt). Der Scheinwerfer ist in diesem Sinn, um das nur anzudeuten, der Zugang zu Bedingungen von Leben und Tod, mit Siegfried Kracauer gesagt: zu Mächten, “die das Dasein einklammern” (Die Angestellten, S. 99). Vom Auto bleibt das Licht.

Vom Auto bleibt schließlich auch die Flucht als Bewegungsmodus. Die Flucht ist etwas, das ist im Kino, auch im US-Kino häufig. Spielbergs erste beiden Kinofilme sind Roadmovies in Form von Auto-Flucht-Filmen: Duel und dann Sugarland Express, und beide enthalten ein Motiv-Objekt, das in Sugarland Express sehr barock erscheint (rund um die Verfolgung durch die Polizei-Auto-Kolonne und in Form einer veritablen Split Screen-Aufnahme) und das in Duel zentral und durchgängig, grundsätzlich und gründungmomenthaft, auch wie ein Diagramm dieses Films erscheint – das ist der Rückspiegel. In fast jedem Spielberg-Film gibt es eine stark aufgeladene Szene mit einem, zum Teil IN einem, Rückspiegel (außer etwa in Jaws und 1941). Die Signatur des Rückspiegels hat Jurassic Park geliefert mit dem Gag mit dem Blick eines Fahrers in den Auto-Rückspiegel, in dem der riesige T-Rex erscheint, der das Auto verfolgt, samt dem standardmäßigen Warn-Hinweis “Objects in the mirror may be closer than they appear”. Du bewegst dich nach vorn, und zugleich ist das, was hinter dir ist, was zurückbleibt, dir näher als es scheint.

Um die Zeit von Duel, von Spielbergs Anfängen in der Film- und Fernsehindustrie, gibt es gehäuft Rückspiegel in seinen Filmen. Das reicht von seinem 1968er Soft-Hippie-Roadmovie-Kurzfilm Amblin’ (nach dem Spielberg seine Produktionsfirma benannt hat) bis zu der Columbo-Folge, die er inszeniert hat. Und von dem abendfüllenden UFO-Film, den er 1963 als 17-jähriger gedreht hat, Firelight, da gibt es vier Minuten online, die eine Rückspiegel-Szene enthalten; eine, die zum Teil ein Blueprint für jene in Close Encounters ist.

Damit das jetzt nicht zu nerdig wird, nicht zu sehr in Richtung director’s signatures ausschert, kurz ein Wort, zu dem Sinn, den dieses Motiv-Objekt verkörpert, ohne dass es ihn, den Sinn, ruhigstellen würde: Es wurde oft darauf hingewiesen, dass Duel einer der (vielen) Filme zur Krise des Modells der bürgerlich-weißen heteronormativen Männlichkeit ist. Krise des Selfmade-Man, des auto-mobilen Subjekts, des Familien-Ernährers und -Oberhaupts; das – die Familienoberhaupt-Frage – wird gleich nach Filmbeginn in der Talkshow im Autoradio lange erörtert, wenn dann auch der Rückspiegel eingeführt wird; und mit ihm der Mann im Rückspiegel. Dazu als Anmerkung: Den Darsteller dieses Autofahrers namens David Mann, aptly named, Dennis Weaver, kennen Cinephile vielleicht sonst noch von seiner kleinen, aber markanten Rolle als der durchgeknallte “Night Man” in Orson Welles’ Touch of Evil. Das psychisch Derangierte ist also seiner Erscheinung immer schon nahe; und genauso ist es mit dem Truck, der ihm näher ist als es scheint: Auch die Gewalt einer aggressiven, toxisch dampfenden Männlichkeit ist dem Normalbürger näher als die liberale Optik mit ihren Projektionen es gern sehen würde.

Von daher lässt sich der Rückspiegel in Duel auch im Rückspiegel von Spielbergs großen Polit-Historiendramen der 2010er Jahre sehen. Schauen wir auf den Rückspiegel zurück aus der Optik von Lincoln, der nach seiner Vorgeschichte mit einer Art Rückspiegelszene neu gestartet wird, und von The Post, in dem der weiße Zeitungsredakteur im Rückspiegel seines Autos eine Anti-Nixon-Protestdemo von weißen Hippies und People of Color sieht, dann tritt am Rückspiegel in den Vordergrund die Dynamik des Haunting, der Heimsuchung durch ein forderndes Mit-Sein. Eine Manifestierung von Kontingenz im Sinn von Verwiesenheit-auf. Das kann die Bezogenheit auf eine andere gesellschaftliche Existenzweise, auch eine andere, eine “schmutzige”, Klasse sein wie in Duel. Oder das Unruhig-Bleiben von people im Post, von Volk, das in der Drucker-Schwärze und in der Blackness in diesem Zeitungsmilieu-Film umgeht, überdeckt, aber unloswerdbar. Oder der Auftrag, den Lincoln von jenen erhält, die ihn zitieren: Diese Angels of History vermittelt Spielbergs Film als die Antriebskräfte von egalitärer Politik, die in der Great White Men History marginalisiert werden, aber nicht loszuwerden sind. Closer than they appear.

Es geht mir nicht darum, was der Rückspiegel bei Spielberg bedeutet. Es geht überhaupt selten darum, was irgendein Objekt, Motiv, Phänomen bedeutet. Es geht nicht um Bedeutungen, sondern um Sinn. Der Sinn zeigt sich, insistiert, in Wendungen, Drehungen. In der Zeit: als deren Spaltung in Vorbeiziehen und Bleiben. Als Spaltung auch in Bewegung – und Rückblick als deren Gegenlauf, deren Infragestellung. Mit solchen Konstellierungen von Fahren und Fragen, Sitzen und Unruhig-Sitzen, von Vorbeiziehen-Lassen und Irritiert-Werden, von Zeit-Verbringen und Denken, von Zu-Ende-Kommen und Bleiben, damit sind wir, noch einmal, dem nahe, was Kino… ist? Ich sage nicht, was Kino ist. Ich sage lieber: was im und durch Kino wahrnehmbar wird. (Kino als das, was rund um Filme ist, sofern diese nicht Büroartikel sind.)

Wichtiger wäre mir nun allerdings die Wendung, und nach einer solchen hab ich mir erlaubt, die Collection on Screen-Reihe, die nun zu Ende geht, zu benennen. Was vielleicht bleibt, ist ein schönes Paradox, das ich von Kracauer aufgegriffen habe und zusammengefasst habe mit “Film ist eigentlich nicht politisch”. Dass Film nicht politisch ist, sondern politisch kontingent ist, gerade das eröffnet, das ermöglicht, das verlangt zu einem gewissen Grad das Investment einer politischen Wahrnehmung in Filme.

Im Programmheft steht dazu: “Siegfried Kracauer, der im Buch Ansichten und Absichten oft zitiert wird, schreibt 1960 in Theory of Film, man könne Film nicht auf irgendeine politische Position festlegen; keinesfalls sei Film festlegbar auf – Sozialkritik, Kollektivismus, Revolution, Bürgertums-Satire oder Alltagshorror. Kracauer erstellt da eine regelrechte linke Liste. Um Paradoxa nie verlegen, sagt er quasi: Denken Sie jetzt bitte nicht an das, was ich jetzt gleich sage. Denken Sie also bei Film bitte nicht an – politische Insubordination, Sozialkritik, Umsturz und all das.

Genau! Denken Sie bei Jacques Tatis Playtime keinesfalls daran, wie lustig es klingt/aussieht, wenn im Elektro-Kapitalismus Freizeit zur mühsamen Verrichtung wird. Denken Sie bei David Cronenbergs The Fly nicht daran, wie ein herz- und magenzerreißendes Splatter-Melodram maskuline Machtmystik verdaut. Denken Sie bei Frank Capras Prelude to War und Gerhard “Benno” Friedls Amerongen-Film bitte nicht an eine Vorgeschichte krimineller Angriffskriege der Nazis und ihrer Verbündeten in Kombination mit ungelösten Kriminalfall- und Krankengeschichten deutscher Nachkriegskonzernkarrieren (und wie g´feanzt diese Symptomatologien rüberkommen). Denken Sie bei der Paradiesvögel- und Gespenster-Doku-Kombi von Tina Leischs Gangster Girls mit Anja Salomonowitz’ Kurz davor ist es passiert nicht an Stimmen, die Sprechende spalten, weil deren Körper quer zu ihren Haftanstaltsräumen stehen bzw. quer zu Erzählungen von illegalisierten Migrantinnen. Denken Sie beim Sozialhorror von Jordan Peeles abgründiger “Aufstiegs”-Satire Us nicht an ein Wir, das im ZusammenSpalt von Oberwelt und underclass lebt und stirbt. Und denken Sie bei Duel, dem Langfilm-debüt von Steven Spielberg (der am 18. Dezember 76 wird), nicht daran, wie ein weißes Mittelschichtmännchen vor toxisch qualmender Auto-Aggression flieht, die ihm noch näher ist als im Rückspiegel. Denken Sie nicht an all diese Polit-Kramuri. Sehen Sie davon ab; sehen Sie sich das an. Immerhin geht es ja um Ansichten und Absichten.”

Schlusswort: Die Absichten sind gespalten: Sie sind die Intentionen, die stets Projektionen, auch ein Sich-Entwerfen in Räume beinhalten; sie sind aber auch die Abschattung, das Absehen, ohne das es keine Filmprojektion gibt, nix zum Ansehen, keine Ansichten, keine Positionen. Bleiben wir auf unserer Position, schauen wir nicht ins Licht. Ins Licht schauen sollst du nicht bei Spielberg und nicht im Kino (auch nicht bei Kracauer; davon handelt sein Reden vom Kategorisch-Vorletzten, das unmöglich ist). Und machen wir auch kein Licht. Um zu zitieren, was der Mann am Steuer und am Rückspiegel jetzt gleich in der Road Café-Szene von Duel sagen wird: “I want you to cut it out.” In der Synchro sagt er: “Ich möchte, dass Sie das lassen.” Auch die Handys bitte ausgeschaltet lassen. Wir sehen jetzt Duel in 90 Minuten und 35mm.

Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors