The Other – Frankenstein

Frankenstein, 1931, James Whale

Vorwort der Autorin zum Roman Frankenstein

Als der Verleger der Standard Novels “Frankenstein” für eine seiner Reihen auswählte, trat er mit der Bitte an mich heran, eine kurze Darstellung des Ursprungs der Geschichte beizusteuern. Ich bin dazu umso eher bereit, als ich damit ein für allemal Antwort auf die Frage geben kann, die mir so oft gestellt wird – wie ich als noch junges Mädchen auf einen so entsetzlichen Gedanken verfallen und mich darüber so ausführlich auslassen konnte. Schon als Kind habe ich Schreibversuche gemacht, und es war meine Lieblingsbeschäftigung, in den Stunden, die ich mir selbst überlassen war, “Geschichten zu erzählen”. Doch gab es ein noch größeres Vergnügen für mich – nämlich Luftschlösser zu bauen, Tagträumen nachzuhängen, Einfälle auszusinnen, die schließlich eine Reihe von imaginären Ereignissen bildeten. Meine Träume waren zugleich phantastischer und angenehmer als meine Texte. Beim Schreiben ahmte ich nur sklavisch nach, wiederholte eher, was andere mir vorgemacht hatten, als eigene originelle Einfälle zu Papier zu bringen. Als kleines Mädchen lebte ich hauptsächlich auf dem Land und hielt mich oft in Schottland auf. Gelegentlich unternahm ich Reisen zu den eher malerischen Gegenden, aber mein eigentlicher Wohnsitz lag an den öden und eintönigen Nordufern des Tay, in der Nähe von Dundee. Öde und eintönig nenne ich sie im Rückblick, aber das waren sie damals für mich ganz und gar nicht. Sie waren der Horst der Freiheit, die erfreuliche Landschaft, wo ich ungehindert mit den Gestalten meiner Phantasie umgehen konnte.

Im Sommer 1816 besuchten wir die Schweiz und wurden Nachbarn von Lord Byron. Zuerst verbrachten wir unsere Mußestunden auf dem See oder auf Spaziergängen an seinem Ufer. Lord Byron, der gerade am dritten Gesang von “Childe Harold” arbeitete, war der Einzige von uns, der seine Gedanken zu Papier brachte, und als er uns diese von poetischer Leuchtkraft und Harmonie durchdrungenen Verse nach und nach brachte, schienen sie den Schönheiten von Himmel und Erde, deren Eindruck wir gemeinsam erlebten, das Siegel des Göttlichen aufzuprägen. Aber der Sommer stellte sich als nass und unfreundlich heraus, und unablässiger Regen fesselte uns oft tagelang ans Haus. Einige vom Deutschen ins Französische übersetzte Bände Gespenstergeschichten fielen uns in die Hände.

“Wir wollen alle eine Gespenstergeschichte schreiben”, sagte Lord Byron, und sein Vorschlag wurde angenommen. Wir waren zu viert. Der edle Dichter begann eine Erzählung, von der er ein Fragment am Ende seines Gedichts “Mazeppa” drucken ließ. Shelley – dem es leichter fiel, Gedanken und Gefühle mit der Suggestivität einer reichen Bildersprache und der Musik höchst wohlklingender Verse auszudrücken, die unsere Sprache zieren, als das Handlungsgerüst einer Geschichte zu erfinden, begann eine, die auf Erlebnissen seiner frühen Kindheit beruhte. Ich gab mir schreckliche Mühe, eine Geschichte zu erfinden – eine Geschichte, die es mit denen aufnehmen konnte, die uns zu dieser Aufgabe angeregt hatten –, eine, die die geheimsten Ängste der menschlichen Natur ansprechen und Schauer des Entsetzens hervorrufen würde – eine, bei der dem Leser davor grauen würde, sich umzublicken, bei der ihm das Blut in den Adern stocken und der Puls schneller schlagen würde. Bei einem da von wurden verschiedene philosophische Lehren diskutiert, unter anderem auch Wesen und Ursprung des Lebens und ob Aussicht bestehe, sie je zu entdecken und das Wissen zu nutzen. Sie unterhielten sich über Dr. Darwins Experimente, ich spreche nicht von dem, was der Doktor wirklich tat oder zu tun behauptete, sondern, was meinen Absichten näherkommt, von dem, was er angeblich getan hatte, der ein Stückchen Regenwurm in einem Reagenzglas so lange aufhob, bis es sich auf wundersame Weise selbständig zu bewegen begann. So allerdings würde Leben nicht entstehen. Vielleicht würde man eine Leiche wieder zum Leben erwecken. Der Galvanismus hatte Beispiele dieser Art geliefert: vielleicht ließen sich Einzelteile eines Menschen herstellen, zusammensetzen und mit Lebenskraft beseelen? Die Nacht verging über diesem Gespräch, und selbst die Geisterstunde war vorüber, bevor wir uns zur Ruhe begaben. Als ich mich ins Bett legte, konnte ich nicht einschlafen, aber auch von Nachdenken konnte keine Rede sein. Ungebeten hatte meine Phantasie völlig Besitz von mir ergriffen und verlieh den wechselnden Bildern, die vor mir auftauchten, eine Lebendigkeit, die über die übliche Tagträumerei weit hinausging. Ich sah – zwar mit geschlossenen Augen, aber klar vor meinem geistigen Blick –, ich sah den blassen Adepten heilloser Künste neben dem Wesen knien, das er zusammengesetzt hatte. Ich sah das abscheuliche Phantom eines Mannes ausgestreckt daliegen und plötzlich mithilfe einer gewaltigen Maschine Lebenszeichen von sich geben und sich mit einer noch schwerfälligen und ungelenken Bewegung rühren. Erschreckend musste es sein; denn die Wirkung jedes menschlichen Versuchs, die unnachahmliche Maschinerie des Weltschöpfers kindisch nachzuahmen, musste außerordentlich erschreckend sein. Vor seinem Erfolg würde der Künstler erschaudern; von Grauen gepackt, würde er sich von dem abscheulichen Werk seiner Hände abwenden. Er würde hoffen, dass der kümmerliche Lebensfunke, den er entzündet hatte, verlöschte, wenn man ihn sich selbst überließe, und dass dieses Wesen, so unzulänglich zum Leben erweckt, zu toter Materie verfiele und er Schlaf fände in der Gewissheit, es werde sich ewige Grabesstille über die vergängliche Existenz des abscheulichen Leichnams senken, den er als die Wiege des Lebens betrachtet hatte. Er schläft ein; etwas weckt ihn auf; er öffnet die Augen, und siehe, das scheußliche Wesen steht an seinem Bett, öffnet die Vorhänge und sieht ihn mit gelben, wässrigen, aber forschenden Augen an. Entsetzt öffnete ich die Augen. Die Vorstellung nahm mich so gefangen, dass mich ein Angstschauer überlief, und mir lag daran, das grässliche Trugbild meiner Phantasie mit der mich umgebenden Wirklichkeit zu vertauschen. Ich sehe noch alles vor mir: das Zimmer, das dunkle Parkett, die geschlossenen Fensterläden, durch die spärliches Mondlicht dringt, und das deutliche Gefühl, dass der spiegelglatte See und die hohen weißen Alpen dahinterlagen. Ich konnte das Bild meines abscheulichen Phantoms nicht so schnell loswerden; es verfolgte mich weiter. Ich musste versuchen, an etwas anderes zu denken. Ich kehrte zu meiner Gespenstergeschichte zurück – meiner lästigen, unglücklichen Gespenstergeschichte! Ach! Könnte ich doch nur auf eine Geschichte verfallen, die meine Leser ebenso erschrecken würde, wie ich mich in dieser Nacht erschrocken hatte! Blitzschnell und erlösend kam mir die Erleuchtung. “Ich habe sie ja gefunden! Was mich entsetzt hat, wird auch andere entsetzen, und ich brauche nur die Erscheinung zu beschreiben, die meine nächtliche Ruhe gestört hatte.”

Anfangs dachte ich daran, nur eine kurze Erzählung zu schreiben. Aber dann fesselte die Idee mich so stark, daß ich sie weiter ausgesponnen habe. Und nun, du unheimliches Kind meiner Muse, gehe hinaus und wirb dir Freunde! London, M. W. S. 15. Oktober 1831.

Quelle: Mary Shelley, Frankenstein


Zu sehen im Österreichischen Filmmuseum in der Reihe “Collection on Screen: The Other”.