B-Hamlet

Stefan Grissemann

aus: Mann im Schatten. Der Filmemacher Edgar G. Ulmer, Reihe KINO, Band 1 Zsolnay-Verlag, Wien 2003

Strange Illusion

Neben Bluebeard gehört vor allem ein Film zu Ulmers ewigen eigenen Favoriten, den er gleich danach, Anfang Oktober 1944 inszeniert: Strange Illusion sei “the best picture”, obwohl er anderswo in demselben Interview auch The Black Cat, The Naked Dawn und Detour nennt. (1) Er liebe außerdem, erzählt er in einem anderen Gespräch 1961, L’homme qui tua le daim, einen Film, den er “nach zwei Dritteln” abbrechen musste, weil der Staat “Geschichten” gemacht habe. (2) Das Thema, einem “sehr schönem Buch entnommen”, sei von großer Schärfe, sehr provokant gewesen, “das Abenteuer einer Rothaut, die in ihrem Reservat einen Damhirsch tötet”. Er hoffe, den Film wiederaufnehmen zu können.

Ulmer hat seine Haltung während der Zeit bei PRC als “schizophren” bezeichnet. Einerseits sei er durchaus an den Einspielergebnissen interessiert gewesen, andererseits habe er unentwegt versucht “Kunst mit Anstand und Stil” zu produzieren. Der Konflikt zwischen der Überheblichkeit des auteur und der Markttauglichkeit seines Materials lässt sich an Strange Illusion hervorragend demonstrieren: Nichts Geringeres als eine moderne Variation von Shakespeares “Hamlet” schwebt Ulmer vor, aber unter dem Deckmantel eines populären Whodunit, eines Noir-Dramas.

Strange Illusion von Edgar G. Ulmer
Strange Illusion, 1945, Edgar G. Ulmer

Ein neues PRC-Logo, Hollywood-kompatibler als bisher, steht am Beginn von Strange Illusion. Auch daran kann man sehen, dass hausintern die Anweisung, ab sofort höhere production values wenn nicht zu bieten, so doch wenigstens zu suggerieren, ernstgenommen wird. Am Anfang steht eine surrealistische Szene, eine Traumsequenz: Ein junger Mann, Paul, bewegt sich durch Nacht und Nebel, durch eine irreale Wolkenlandschaft. Was sich vor seinen Augen ereignet, ist verstörend. Ein Schattenmann gibt sich als Pauls Vater aus, bringt dessen Schwester und Mutter mühelos auf seine Seite, während es weit unten, in der dunklen Nacht, zu einem Unfall kommt: Ein Zug kracht gegen ein Auto (es sind erkennbar Spielzeugfahrzeuge, die Ulmer hier inszeniert), den sinistren Mann an der Seite von Pauls Mutter scheint die Tragödie noch zu erfreuen. Paul selbst ist schockiert, während der alarmierende Klang von Schumanns Klavierkonzert den Übergang vom Schlaf zum Wachzustand markiert.

Geheimnisse einer Seele: Die Fasziniertheit von der Ausgestaltung psychischer Ereignisse geht auf Ulmers Sozialisation im deutschen Expressionismus zurück, aber wieder nimmt diese stilistische Nähe neue Züge an. Anders als in Bluebeard, wo Ulmer das expressive Schauspiel und Dekor des Kinos der frühen zwanziger Jahre nachvollzogen hat, geht es in Strange Illusion eher um die neusachlichen und psychoanalytischen Aspekte des Films jener Zeit: war Ulmer mit Bluebeard näher bei Robert Wiene (etwa an Orlacs Hände, 1925), so ist er nun näher an den freudianischen Studien G.W. Pabsts.

Strange Illusion dreht sich um einen nach dem Unfalltod seines Vaters traumatisierten Schüler (gespielt von Jimmy Lydon, einem populären Darsteller jener Tage, bekannt aus der “Henry-Aldrich”-B-Filmserie), der einen dubiosen Fremden (Warren William) seine verwitwete Mutter umschleichen und umgarnen sieht. Es ist anzunehmen, dass Ulmer diesen Stoff persönlich nimmt: Der Hass seines jungen Helden auf den neuen Mann an der Seite der Mutter ist etwas, das Ulmer aus eigener Erfahrung nachvollziehen kann. (Ödipale Konflikte sind im übrigen ein Fixpunkt in Ulmers Werk, siehe etwa auch in The Strange Woman oder das innerfamiliäre Beziehungsdrama in Tomorrow We Live. Und Pädophilie taucht, in fast identischen Zusammenhängen, als Thema in Moon Over Harlem auf.) Warren William, in den dreißiger Jahren eines der matinee idols der Warner Bros., gibt Strange Illusion ein charismatisches Zentrum als in die Jahre gekommener, skrupelloser Playboy. Als undurchschaubarer bad guy setzt er James Lydons allzu schülerhaft dargestelltem Zorn Wertvolles entgegen: Nicht nur ist William der mit Leichtigkeit beste Schauspieler dieses Films, er ist auch dessen schillerndste Figur.

Um ihn herum agieren vornehmlich Filmklischees, stereotyp gezeichnete Charaktere, deren Funktion im Ganzen auf den jeweils ersten Blick erkennbar wird: die ständig zwischen Lebensmut, Panik und ängstlicher Sorge um die Familie changierende Mutter; die schnippisch-kokette, unreflektierte Schwester; der weise Freund der Familie, ein Vaterersatz; ein braver schwarzer Hausdiener. Paul beschließt, Mutters neuen Favoriten, diesen gebildeten, weltläufigen Mann, zu testen. Man meint, ihm wenig vorwerfen zu können, aber Paul recherchiert – und findet belastende Dokumente, Hinweise auf ein kriminelles Vorleben, das der Mann, Brett Curtis, geführt haben könnte. Pauls Kontrahent reagiert auf die Versuche, ihn zu provozieren, öffentlich gelassen, aber in einer frühen Szene bereits, die Curtis mit seinem Komplizen, einem Psychatrieprofessor, zeigt, stellt Ulmer klar, dass Pauls Widerwillen gegen den Mann mit gutem Grund besteht. Curtis ist nicht nur Mörder und Erbschleicher, nicht nur pädophil, sondern, wie sich noch zeigen wird, auch unmäßig: Er ist sowohl Pauls Freundin als auch teenage girl Dorothy nicht abgeneigt. Dabei lässt er sich nicht gerne stören. Einen  “persistent little devil” nennt er, eigentlich zu Recht, den ihn mit kriminologischen Fangfragen bedrängenden Paul.

Die Welt, in der Strange Illusion spielt, ist großbürgerlich, luxuriös – und sehr amerikanisch: Ulmers kalifornische Idyllenmalerei steht in produktivem Schein-Widerspruch zum finsteren Kern der Erzählung. Pauls psychischer Qual setzt Ulmer, mit Sinn für photogene Paradoxien, das Licht über Tennisplätzen, Swimmingpools und Bergseen entgegen. Dabei spricht er im Subtext dieser Inszenierung der Doppelmoral seiner Wahlheimat das Misstrauen aus, ähnlich wie später auch in The Naked Venus. Aber nebenbei kostet er doch alles Gängige und Modische aus, so gut es geht: So nähert sich Ulmer auch dem Format des Teenagerfilms noch einmal, in Szenen, die frappant an Jive Junction erinnern. Für Dorothy und ihre Freunde, allesamt schon in jungen Jahren konservativ, ist eine kleine Tanzeinlage zu Swing-Musik augenscheinlich schon eine Tat der Entgrenzung.

Aber der junge Held des Films hat dafür im Moment keinen Sinn, er ist anderweitig beschäftigt. Etwas an Curtis ist ihm suspekt, so beginnt er seine Forschungsarbeit. Paul steigt in neu entflammtem Interesse an der Kriminologie in die übergroßen Fußstapfen seines Vaters. Ausgehend von dem Alptraum , der ihn überhaupt erst auf die Idee gebracht hat, dass sein Vater nicht einem Unfall zum Opfer gefallen, sondern umgebracht worden sein könnte, entwickelt er die kühne These, Curtis könnte hinter dem jähen Ableben stecken. Niemand glaubt ihm zunächst, man konstatiert eine “juvenile neurosis” und verfrachtet Paul, den man wie Hamlet für ein wenig durchgedreht hält, in ein teures Sanatorium. Paul spielt da gern mit, weil sein Psychiater ausgerechnet jener Mann ist, der ihm als Komplize Curtis’ bereits aufgefallen ist. Ein Klima der Paranoia liegt über Strange Illusion, eine Atmosphäre der gegenseitigen Überwachung. Aber die Allianz der Guten, die sich aus der engen Verbindung Pauls zur väterlichen Figur seines Hausarztes (Regis Toomey) ergibt, setzt sich erwartungsgemäß gegen den Rest der Welt durch.

Edgar G. Ulmer
Edgar G. Ulmer

Strange Illusion, das sei Psycho fünfzehn Jahre früher, meint Ulmer selbst, in gewohnt entspannter Beziehung zur eigenen Selbstüberschätzung. (3) Dabei hat sein Film viel eher als mit Psycho mit Hitchocks Suspiscion zu tun, was aber als Argument nicht ganz so gut einsetzbar gewesen wäre: Suspicion ist drei Jahre vor Strange Illusion entstanden. Ulmer verschiebt seinen Thriller an die Schnittstelle zwischen Film noir und Melodram, zwischen Genre-Schattenspielen und den Versatzstücken des Gefühlskinos. Letztere finden sich etwa in dem auffälligem Interesse für Spiegelungen (an Wasseroberflächen ebenso wie in einem einseitig durchsichtigen Spiegel in der Klinik) und für andere Abbilder der Wirklichkeit, Imitationen des Lebens: Ein monumentales Gemälde, das Pauls verstorbenen Vater zeigt, überschattet, überragt in einer vielsagenden Einstellung im ersten Teil des Films die Dreiergruppe, die Paul mit seiner Mutter und ihrem neuen Liebsten bildet. Kameramann Eugen Schüfftan, an dessen Stelle Phiip Tannura als Strohmann im Vorspann steht, wählt in diesem Bild eine maginierte Position, die extreme Untersicht: Wie eine übermächtige Figur ihre Welt noch aus dem Jenseits beherrscht, wird hier auf einen Blick, ohne weitere Erklärung, ersichtlich. Es gibt im Kino nichts, das unheimlicher wäre als die Autonomie des Blicks, die Abspaltung des Sehens von den handelnden Figuren. Eine solche “autonome” Kamerabewegung findet in Strange Illusion statt ganz ähnlich wie in The Black Cat in Boris Karloffs Verlies): eine Wanderung des Blicks von Paul weg durch den Raum, zum Bild des Vaters an der Wand. Im Raum befindet sich signifikant ein Globus, man könnte sagen: eine ganze Welt. Wenig später wird diese Weltkugel, wie eine unüberbrückbare Different, während eines konfrontativen Gesprächs auch zwischen Paul und dem verschlagenen Psychiater stehen.

Äußerlich ist Strange Illusion den Klischeebildern und Oberflächen Hollywoods verpflichtet, aber schon eine Schicht tiefer verweigert der Film jede klassische Anonymität. Bereits der Musikteppich des Soundtracks Leo Erdodys ist so aufdringlich, dass man gar nicht anders kann, als die darin ständig kippenden Stimmungen sehr deutlich als künstlich wahrzunehmen. Und Ulmer bemüht sich nicht sehr, Spannung aufkommen zu lassen; an seinen Actionszenen ist er noch weniger interessiert. Die Kompensation, die er bietet, ist eine schnelle, bewegliche Inszenierung und eine komplizierte Handlungsführung. Pauls Paranoia erweist sich als begründet, sein Traum wird wahr, und der Film taucht mit ihm ab ins Schwarz der Nacht, in eine “überfüllte” Erzählung, die Ulmer sozusagen auf engstem Raum abwickelt. Die Schurken werden mit einer Reihe von Winkelzügen zur Strecke gebracht, der eine wird verhaftet, dem anderen wird die Libido zum Verhängnis: Er wird dabei ertappt, wie er sich an einer Minderjährigen vergreift, und wird gleich erschossen. Aber da ist Paul schon wieder ohnmächtig, von Curtis niedergeschlagen, zurückgeschlagen in die dunkle Alptraumwelt des Prologs, die nun ein (seltsam falsch klingendes) Happyend verheißt. Entrückt geht dieser Film zu Ende, passend zu seiner befremdlichen Zeitlosigkeit und seiner fast mythischen Textur. Der Supernaturalismus des Films akzentuiert eine primäre Linie in Ulmers Werk, die sich von The Black Cat über The Light Ahead bis zu The Man from Planet X und L’Atlantide zieht.

Bret Wood sieht in Strange Illusion in der Betonung des Grauens hinter freundlichen Orten und heiteren Figuren einen Vorläufer der Paranoia-Schocker Invasion of the Body Snatchers und der Stepford Wives (4); und Ulmer, schreibt Alexander Horwath, sei “ein unmännlicher Regisseur unmännlicher Männer” (5). Das ist tatsächlich so; bubenhafte Helden faszinieren Ulmer nicht nur hier, Beispiele dafür gibt es viele: Michael Goldstein in Green Fields, David Opatoshu in The Light Ahead, Tom Neal in Detour, Eugene Iglesias in The Naked Dawn, Jean-Louis Trintignant in L’Atlantide. Strange Ilusion sei auch, so Horwath, “ein Film knapp vor Kriegsende: Vater ist fort, Sohn sehr verträumt, Mutter und Tochter gefährdet, frontuntaugliche sleazeballs bedrohen den Haushalt, und Psychologen, Lehrer, Nervenärzte erweitern ihre territorialen Ansprüche.” (6)

Am 16. Oktober 1944 enden die Dreharbeiten; vier Monate später, im Februar 1945, wird Strange Illusion veröffentlicht. Der Film erregt kein größeres Aufsehen, die Kritiker zeigen sich gelangweilt, nennen ihn ein “okay melodrama for the PRC market”, bemäkeln aber Ulmers “directorial plodding”: Story und Darsteller seien zwar interessant, aber die Langsamkeit der Erzählung schade dem Film sehr. (…)

(1) Bogdanovich, Ergänzung (FN 6).

(2) Es ist ungeklärt, von welchem Film Ulmer hier spricht: Eine Arbeit dieses Titels findet sich weder in den von ihm selbst angefertigten noch in anderen Listen seiner unvollendeten oder auch nur geplanten Werke. Das Zitat stammt aus: Luc Moullet, Bertrand Tavernier: Interview mit Edgar G. Ulmer. In: Cahiers du Cinéma, No. 122, August 1961, S.8.

(3) Moullet, Tavernier, Interview (FN 35), S.6.

(4) Bret Wood in: Video Watchdog, No. 41, 1997, S. 29.

(5) Alexander Horwath: Das Shining. In: Christian Cargnelli, Michael Omasta (Hg.) “Schatten Exil — Europäische Emigranten im Film noir”, Wien 1997,S. 303.

(6) Ebenda, S.303.

Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors

The B-Film – Hollywoods Low-Budget-Kino 1935-1959