Rise Up! #3 Postkoloniale Selbstermächtigung: Julio García Espinosa

Tom Waibel

Der Umstand, dass Bilder, Zeichen und Aussagen nicht nur dazu dienen, Welten darzustellen, sondern immer auch dazu beitragen, dass sich mögliche Welten ereignen, wurde zum Motor und Programm des Neuen Lateinamerikanischen Films. Die Bewegung für eine engagierte Filmpraxis entwickelte sich in den 1950er Jahren in einem gesellschaftlichen Klima, das von einer Zunahme politischer Kämpfe gekennzeichnet war: In unterschiedlichen Ländern Lateinamerikas gewannen soziale und politische Bewegungen an Bedeutung, in abgelegenen Gebieten begannen Guerillakämpfe aufzuflammen, und die Forderungen der revoltierenden Studierenden hallten auf dem ganzen Kontinent wider. In weltweiter Perspektive wurde die gesellschaftliche Auseinandersetzung noch weiter zugespitzt durch verstärkt auftretende Unabhängigkeitsbewegungen und sich verschärfende dekoloniale Befreiungsbestrebungen. Unter diesen Umständen fanden sich in zahlreichen lateinamerikanischen Ländern Filmemacher*innen, die entschlossen waren, ihre filmische Arbeit nicht nur als Seismographen der gesellschaftlichen Dynamik einzusetzen, sondern auch an der politischen Transformation dieser Gesellschaften mitzuwirken.

In dieser Hinsicht ist zunächst Fernando Birri zu nennen, der in den 1950er Jahren in Argentinien mit Tire dié die erste filmische Sozialstudie Lateinamerikas herstellt, und 1956 in Santa Fé eine Dokumentarfilmschule begründet. In Brasilien bahnt Nelson Pereira dos Santos in demselben Jahr mit Rio, 40 Graus, einem Spielfilmportrait einer Favela in Rio de Janeiro, den Weg für das künftige Cine Novo, den neuen brasilianischen Film. Aber ab 1959 sollte insbesondere der Erfolg der kubanischen Revolution die Entwicklung des neuen lateinamerikanischen Films beflügeln: Bereits drei Monate nach dem triumphalen Einzug der bärtigen Guerilleros in Havanna wird auf Initiative der Kulturkommission der Rebellenarmee das Institut für kinematographische Kunst und Industrie ICAIC gegründet.

Die Unternehmungen dieses Instituts bestanden darin, den unterschiedlichsten kinematographischen Formen zum Ausdruck zu verhelfen. Dabei entstehen Wochenschauen und Dokumentarfilme ebenso wie affirmative oder spöttische Reflexionen der eigenen revolutionären Geschichte, die in so gegensätzliche Filme münden wie etwa 1967 Die Abenteuer des Juan Quin Quin von Julio García Espinosa, oder 1968 Erinnerung an die Unterentwicklung von Tomás Gutiérrez Alea. Das ICAIC spielte aber auch eine bedeutende Rolle für die transnationale Entfaltung des neuen lateinamerikanischen Films durch die aktive Unterstützung von Projekten in zahlreichen Ländern des ganzen Kontinents. So erhielt etwa Glauber Rocha am Beginn der 1960er vom ICAIC Starthilfe für die Herstellung seines ersten Films Barravento (1962), und als sich gegen Ende der 1960er Jahre die Lage im Süden des Kontinents durch die Machtübernahme von Militärs zunehmend verschlechtert, leistet das Institut radikalen und sozial engagierten Filmemacher*innen alle möglichen Hilfestellungen.

So wenden sich etwa Fernando Solanas und Octavio Getino nach der Fertigstellung ihres monumentalen Dokumentarfilm-Essays Die Stunde der Hochöfen (1968) ans ICAIC mit der Bitte, beim Vertrieb ihres Films einzuspringen, da dessen Vorführung in Argentinien von der Militärjunta verboten worden sind. Solanas und Getino sind es auch, die den Bestrebungen zur Dekolonialisierung von Blick und Kino einen Namen geben: Sie bezeichnen die weltweiten kinematographischen Aufbrüche hin zu einem Kino der Befreiung in ihrem Manifest von 1968 als Drittes Kino und fordern von ihm nicht weniger als eine

“Dekolonialisierung der Kultur“.

Sie argumentieren, dass angesichts der Tatsache, dass das Abbild der Wirklichkeit wichtiger geworden sei als die Wirklichkeit selbst, es kein Wissen um diese Wirklichkeit geben könne, solange nicht in sie eingegriffen werde. In diesem Sinne ist das Dritte Kino ein Guerilla-Kino,

“in dem die Kamera zur Waffe“, und der Film zum „Sprengstoff oder Vorwand“ wird,

um Freiräume zur Politisierung und Befreiung zu schaffen. Um Befreiung geht es auch in Julio García Espinosas Manifest Für ein nicht perfektes Kino, in dem er 1969 die Befreiung von den technischen und künstlerischen Ansprüchen des perfekten und

“zumeist immer reaktionären“ Kinos à la Hollywood fordert.

García Espinosa erklärt, dass das nicht perfekte Kino

“nicht mehr an Qualität oder Technik interessiert“ sei, sondern an einer neuen Form von Poesie, die als „engagierte Poesie, engagierte Kunst, als bewusst und entschieden engagiertes Kino“ in „allem enthalten“ sein werde. Und dieses Ziel sei dann zu erreichen, wenn das „kultivierte Publikum der Elite“ endlich überwunden sein wird und „alle Filme machen können.“

Julio García Espinosa kommt 1926 in Habana zur Welt und ist 2016 im Alter von 90 Jahren auch dort gestorben. Am Beginn der 1950er Jahre geht er gemeinsam mit Tomás Gutiérres Alea nach Rom, um am Centro Sperimentale di Cinematografia Regie zu studieren. Hier lernen sie Leute wie Fernando Birri aus Argentinien, Gabriel García Márquez aus Kolumbien, oder den Kameramann Néstor Almendros kennen. Einer ihrer bedeutendsten Lehrer am Centro Sperimentale war Cesare Zavattini und der italienische Neo-Realismo wurde zum prägenden kinematographischen Einfluss für die beiden angehenden Regisseure.

Zurück in Kuba dreht er 1955 gemeinsam mit Gutiérrez Alea den Dokumentarfilm El mégano, der aufgrund seiner sozialkritischen Tendenz vom Batista-Regime alsbald verboten wird. García Espinosa engagiert sich im militanten Widerstand gegen das Regime, er wird nach dem Sieg der Revolution zum Kinobeauftragten der Kulturabteilung ernannt und ist einer der Mitbegründer des Filminstituts ICAIC. García Espinosa dreht eine ganze Serie von Filmen, Dokumentarfilme und Spielfilme gleichermaßen, er arbeitet an Ko-Produktionen mit und schreibt Drehbücher. In den 1980er Jahren wird er zum Chef des ICAIC ernannt, und ab den 2000ern leitet er die kubanische Filmschule in San Antonio de los Baños.

Las Aventuras de Juan Quinquin (Die Abenteuer des Juan Quin Quin),
CU 1967, Julio García Espinosa

Las Aventuras de Juan Quinquin markieren in vielerlei Hinsicht einen Umbruch im kubanischen Filmschaffen: Die Revolution hatte dem Kino eine ganz außerordentliche Bedeutung zugemessen und das kubanische Filminstitut mit einem hohen Maß an künstlerischer Autonomie ausgestattet. Als genereller Rahmen galt, was Fidel Castro bei der Gründung des Instituts artikuliert hatte:

Alles innerhalb der Revolution, nichts außerhalb von ihr.

Als Nikita Chruschtschow in seiner Funktion als Generalsekretär der kommunistischen Bruderpartei in der Sowjetunion die abstrakte Kunst und Malerei verurteilte, hielt Castro dagegen, indem er argumentierte:

Der Feind ist der Imperialismus, nicht die Abstrakte Kunst.

Gleichwohl mussten sich die kubanischen Filmemacher*innen stets der revolutionären Frage nach ihrer künstlerischen Verantwortung stellen, die da lautete:

Die Revolution hat Dir großzügigerweise die Möglichkeit gegeben, Filme zu machen. Was wirst Du ihr zurückgeben?

Juan Quin Quin gibt der Revolution eine ganze Menge zurück, mehr vielleicht als ihr lieb war. Es ist der erste experimentelle Spielfilm des kubanischen Kinos, es handelt sich dabei vor allem anderen um eine Komödie, die einer originellen und nicht-linearen Erzählstruktur folgt. Hier wird nicht nur die narrative Struktur des Films scheinbar wahllos auseinandergerissen und neu zusammengesetzt, darüber hinaus wird auch jede einzelne Sequenz so behandelt, als gehöre sie zu einer anderen Art von Film. Mit Juan Quin Quin riskiert García Espinosa einen gefährlichen Balance-Akt: Denn es geht ihm nicht nur darum, den Zuschauer*innen zu zeigen, dass es sich um einen Film und nicht um die Realität handelt, sondern auch um die Frage, wie man die Elemente des Draufgängertums und Abenteuerfilms ins Lächerliche ziehen kann, ohne dass dies zu einer Satire auf die Revolution gerät. Der Regisseur selbst formuliert diese besondere Herausforderung so:

Wie kann man die Tendenz der Revolution vermeiden, sich selbst allzu ernsthaft zu behandeln? Das soll nicht heißen, dass die Prozesse der Revolution nicht dramatisch sind; sie sind im höchsten Maße ernst, aber sie sollten nicht auf eine formalistische Weise behandelt werden, denn damit beginnt die Dummheit.

Die raffinierte Unangemessenheit der Parodien von Juan Quin Quin schafft es durchaus, die Aufmerksamkeit auf die Künstlichkeit und die formelhafte Qualität von filmischen Codes zu lenken, und damit die filmische Illusion als eine Art vorstrukturierte Konvention bewusst zu machen.

Allerdings kann der Umstand, dass die Frauenfiguren in den Abenteuern des Juan Quin Quin noch immer wie ausgebeutete Sexobjekte gekleidet und dargestellt werden, García Espinosas Absicht, überkommene Rollenbilder zu persiflieren, durch die mehr oder weniger direkte Wiedergabe von sexistischen Codes nicht mehr zufriedenstellend kompensieren

Literatur

Fernando Birri, Manifiesto de Santa Fe (1962), in: La Escuela Documental de Santa Fe, Editorial Documentos del Instituto de Cinematografía de la Universidad del Litoral 1964.

Michael Chanan, The Cuban Image, London: BFI 1985.

Michael Chanan, Cuban Cinema, Minneapolis: University of Minnesota Press 2004.

Julio García Espinosa, Por un cine imperfecto (1969), in: Jump Cut, No. 20, 1979.

Alfredo Guevara, Revolución es lucidez, La Habana: Ediciones ICAIC 1998.

Alfonso Gumucio Dagron, Cine, censura y exilio, La Paz: Film/Historia 1979.

Glauber Rocha, Eztetyka da fome, (1965), in: Revolução do Cinema Novo, São Paulo 2004.

Salvador Salazar Navarro, Cine, Revolución y Resistencia, México: UNAM 2019.

Peter Schumann, Film und Revolution in Lateinamerika, Oberhausen: Laufen 1971.

Fernando Solanas, Octavio Getino, Towards a Third Cinema (1969), in: Scott McKenzie (ed.), Film Manifestos and Global Cinema Culture, Berkeley: University of California Press 2014.

Tom Waibel, Masken des Widerstands, Wien: Löcker 2022.