Rise Up! #4 Postkoloniale Selbstermächtigung: Tomás Gutiérrez Alea

Tom Waibel

Wir können ganz allgemein feststellen, dass das kubanische Kino als Motor des Neuen Lateinamerikanischen Films auch einen integralen Bestandteil der weltumspannenden Strömung des sogenannten Dritten Kinos ausmacht. Und wir können ebenfalls feststellen, dass sich dieses Dritte Kino als ein Kino der Befreiung begreift und sich auf die Suche nach einem nicht-perfekten Kino gemacht hat, in dem politisches Engagement und ästhetische Innovation höher bewertet werden, als technische Perfektion und ökonomische Schlagkraft. Aus all diesen Gründen hat das Dritte Kino nie einen einheitlichen Stil hervorgebracht, sondern bleibt als filmische Bewegung aufgrund ihrer Vielfältigkeit lebendig, und ist dabei doch, wie es Fernando Birri, der große Visionär des lateinamerikanischen Films formuliert hat, in der Vielfalt vereint.

Ein bedeutsames vereinigendes Element innerhalb der Vielfalt dieser Bewegung findet sich zweifellos in politischen Analyse der eigenen Produktionsbedingungen, die in den 1960er Jahren durchwegs aus der Perspektive der Dependenztheorie erfolgt, die im wesentlichen eine Theorie der Abhängigkeit und Unterentwicklung formuliert hat. Demzufolge entspringt die Unterentwicklung einem Zustand der Unterdrückung, der auf die kontinuierliche koloniale und postkoloniale Ausbeutung zurückzuführen ist, die den Ländern der Peripherie durch die metropolitanen Zentren auferlegt wurde und wird. Der Prozess der Unterentwicklung wirkt durch ungleiche ökonomische und soziale Bedingungen, und er deformiert Wirtschaft und Gesellschaft ebenso, wie Staaten und Kulturen. Dabei wird den Unterentwickelten stets erneut eine nachholende Entwicklung in Form einer künftigen Modernisierung in Aussicht gestellt, aber doch niemals komplett eingelöst. Die Theorie der Unterentwicklung besagt, dass die verschiedenen Regionen in der Peripherie durch ihre jeweiligen Kolonialgeschichten an der eigenständigen Entwicklung gehindert werden, und der Begriff der Kolonialität bezeichnet das strukturelle Fortwirken kolonialistischer Muster in Ökonomie, Politik und Kultur auch nach und jenseits der kolonialen Herrschaft.

In Lateinamerika liefert die Theorie der Unterentwicklung einen viel beachteten Schlüssel für das Verständnis der Geschichte des Kontinents und der Geschichte des Kinos. Aber auch die Literatur weiß um die enge Verbindung zwischen wirtschaftlichem und kulturellem Kolonialismus, und Gabriel García Márquez macht sie etwa 1967 in Hundert Jahre Einsamkeit zum Thema: In die abgelegene Ansiedlung des Macondo kommt das Kino mit denselben Lokomotiven, mit der die United Fruit Company auch Plantagen, Ausbeutung und Monokultur in den Urwald bringt.

Unter diesen sozio-politischen Umständen verbündet sich der Wunsch nach einem unabhängigen Kino mit dem Kampf um nationale Befreiung. Immerhin hatte Frantz Fanon, der militante Theoretiker aus Martinique überzeugend dargestellt, dass das Selbstverständnis von Nationen ebenso kolonialisiert werden kann, wie geographische Territorien oder die Körper und das Bewusstsein der darin lebenden Individuen. Und die Befreiung des Bewusstseins war genau der Kampfplatz, auf den sich das Dritte Kino gestellt sah: Um erfolgreich zu sein, mussten die kolonialen Abhängigkeiten an allen Fronten bekämpft werden, und daher nahm sich das Dritte Kino die Aufgabe vor, eine neue Filmsprache zu entwickeln, um die dekolonialen Wahrheiten der neuen sozialen, kulturellen und politischen Identitäten zum Ausdruck zu bringen. Auf ihrer Suche nach solchen filmischen Ausdrucksformen riefen Filmemacher*innen von Havanna bis Santiago, und von Dakar bis Mumbai durchaus avantgardistische Bilderstürme hervor, die auf die vielfältigen vorherrschenden und unterschiedlichen kolonialen Bedingungen reagierten, und dabei in ästhetischer Hinsicht radikal und pluralistisch waren.

Das Neue Lateinamerikanische Kino ist ein nicht-perfektes Kino, das an der filmischen Oberfläche durch die Verwendung von Handkameras und eine absichtlich schlampige und in den Vordergrund gestellte Montage auffällt, und im kinematographischen Untergrund vorherrschende Ausdrucksformen in Frage stellt und untergräbt, und andere Arten von Darstellungswerten ins Spiel bringt. Angesichts des kubanischen Kinos ist es schlichtweg unmöglich geworden, zu behaupten, das Dritte Kino wäre im ästhetischen Bereich, in seiner Entwicklung als (politischer) Kunst, oder als kommunikativer Ausdruck zurückgeblieben. Aus der Perspektive der Metropolen war es ein Schock festzustellen, dass das Kino der Peripherie nicht still stand, und nicht hinter den ästhetischen Vorstellungen der kulturellen Zentren von London, Paris oder New York hinterherhinkte, und dieser Befund trifft in einem ganz besonderen Maß für Memorias del subdesarrollo (Erinnerungen an die Unterentwicklung) von Tomás Gutiérrez Alea aus dem Jahr 1968 zu.

Memorias del subdesarrollo (Erinnerungen an die Unterentwicklung), 
CU 1968, Tomás Gutiérrez Alea
Memorias del subdesarrollo (Erinnerungen an die Unterentwicklung),
CU 1968, Tomás Gutiérrez Alea

Tomás Gutiérrez Alea wird 1928 in Havanna, Kuba geboren, wo er 1996 im Alter von 67 Jahren stirbt. Er studiert zunächst Rechtswissenschaft an der Universität von Habana, und zwar zur selben Zeit, zu der auch Fidel Castro dort Jus studiert. Nach seinem Abschluss geht Gutiérrez Alea ans Centro Sperimentale di Cinematografía in Rom, wo er gemeinsam mit Julio García Espinosa Regie studiert. Sie freunden sich mit Fernando Birri und Gabriel García Márquez an und begeistern sich für den italienischen Neo-Realismo, der ihnen insbesondere durch ihren Lehrer Cesare Zavatini nahegebracht wird. Zurück in Kuba dreht Gutiérrez Alea 1955 gemeinsam mit García Espinosa den Dokumentarfilm El mégano, der sogleich vom Batista-Regime verboten wird.

Daraufhin bauen die beiden die Filmabteilung der Rebellen-Armee auf und beteiligen sich aktiv an der Revolution, nach deren Triumph sie die Gründung des kubanischen Instituts für kinematographische Kunst und Industrie, ICAIC in Angriff nehmen. Das filmische Werk von Gutiérrez Alea ist umfangreich und vielfältig, es beinhaltet Kurz- und Langfilme, Dokumentationen und Spielfilme gleichermaßen, und seine Suche nach filmischen Ausdrucksformen wird richtungsweisend für das Neue Lateinamerikanische Kino. Das gilt insbesondere für Erinnerungen an die Unterentwicklung, mit der er eine Charakterstudie über die Entfremdung in Zeiten des gesellschaftlichen Umbruchs vorlegt, die in New York und Paris ebenso begeistert aufgenommen wird, wie sie in Habana und Sao Paolo zum Nachdenken anregt.

Tomás Gutiérrez Alea untersucht in diesem Schlüsselwerk des Dritten Kinos die verschiedensten Aspekte der ökonomischen, sozialen und kulturellen Unterentwicklung, indem er Fiktion und Reflexion virtuos und essayistisch mit dokumentarischem Material vermischt. Der Film entwickelt aus einem subjektiven Blickwinkel eine Form der fragmentierten Narration, die möglicherweise der Art und Weise entspricht, in der Erinnerung funktioniert. An mehreren Stellen sind Dokumentaraufnahmen von politischen Ereignissen und Protesten in den Film eingefügt, die uns nicht nur die Realität der Revolution vor Augen führen, sondern auch ein Gefühl dafür vermitteln, in welchem Ausmaß die geographisch kleine Insel Kuba aller Unterentwicklung zum Trotz in den 1960er Jahren ins Zentrum der Aufmerksamkeit von Weltöffentlichkeit und Weltpolitik geraten war. Erinnerungen an die Unterentwicklung beruht auf einer Adaption des gleichnamigen Romans von Edmundo Desnoes, der im Film einen kurzen Cameo-artigen Auftritt hat. Desnoes war davon überzeugt, dass der Film deshalb ein größerer künstlerischer Erfolg war als sein Roman, weil es Gutiérrez Alea durch

„soziale Verdichtung“ gelungen sei, „einer Welt Gestalt zu geben, die im Buch noch formlos und abstrakt geblieben ist.“

Im Hinblick auf die Verbindung von Kunst und Politik ist Erinnerungen an die Unterentwicklung mit Sicherheit einer der besten Filme seines Landes und seiner Zeit. Aber sehen wir, wie Gutiérrez Alea selbst seine Arbeit dem kubanischen Publikum vorgestellt hatte:

„Ich denke, dies ist eine gute Gelegenheit, auf einige Aspekte der Realität unseres Landes hinzuweisen, die zum besseren Verständnis des Films beitragen können, den Sie gleich sehen werden. Nach fast zehn Jahren Revolution haben wir gelernt, dass unser Zustand als unterentwickeltes Land (das vierhundert Jahre lang zunächst von Spanien und dann von den USA ausgebeutet wurde) nur durch harte Arbeit und Opferbereitschaft überwunden werden kann. Es war nicht leicht, zu diesem Schluss zu kommen, denn in den ersten Jahren ließ uns die Freude über den Triumph glauben, das Paradies auf Erden sei zum Greifen nah.“

Literatur

Michael Chanan, Cuban Cinema, Minneapolis: University of Minnesota Press 2004.

Michael Chanan, Latin American Cinema. From underdevelopment to postmodernism, in: Stephanie Dennison and Song Hwee Lim (ed.), Remapping World Cinema, New York: Wallflower 2006.

Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde (1961), Frankfurt/Main: Suhrkamp 2021.

Teshome Gabriel, Third Cinema as the Third World: The Aesthetics of Liberation, Ann Arbor: UMI Research Press 1982.

Julio García Espinosa, Por un cine imperfecto (1969), in: Jump Cut, No. 20, 1979.

Gabriel García Márquez, Hundert Jahre Einsamkeit (1967), Berlin: Aufbau Verlag 1980.

Alfredo Guevara, Revolución es lucidez, La Habana: Ediciones ICAIC 1998.

Aníbal Quijano, Kolonialität der Macht, eingeleitet von Jens Kastner und Tom Waibel, Wien: Turia + Kant 2019.

Salvador Salazar Navarro, Cine, Revolución y Resistencia, México: UNAM 2019.

Peter Schumann, Film und Revolution in Lateinamerika, Oberhausen: Laufen 1971.

Tom Waibel, Masken des Widerstands, Wien: Löcker 2022.