Rise Up! #5 Gender Trouble: Ousmane Sembène

Tom Waibel

Ousmane Sembène kam 1923 im Süden Senegals zur Welt und wurde mit vierzehn Jahren von der Schule verwiesen. Er arbeitete auf Baustellen in Dakar, diente im Zweiten Weltkrieg in der französischen Armee und verdingte sich später als Hafenarbeiter in Marseille, wo er sich in gewerkschaftlichen Abendschulen weiterbildet. Sembène beginnt sein künstlerisches Schaffen als Romancier, sein erster Roman erscheint 1956 und sein großes literarisches Meisterwerk, Gottes Holzstücke (Les bouts de bois de Dieu) von 1960 ist eine groß angelegte Erzählung über den Eisenbahnerstreik 1947-1948 in Französisch-Westafrika.

Er begreift rasch, dass er mit seinen Erzählungen viele seiner westafrikanischen Landsleute nicht erreichte, da sie entweder gar nicht lesen, oder nicht französisch lesen konnten. So wendet er sich im Alter von vierzig Jahren dem Kino zu. Er belegt 1961/62 in Moskau einen Kurs in Filmemachen, und hat mit seinen filmischen Arbeiten bald darauf großen Erfolg. In seiner Karriere, die von La noire de… (1966), dem Porträt einer jungen Senegalesin, die als Hausangestellte in einer französischen Mittelklassefamilie arbeitet, bis zu seinem letzten Film Moolaadé (2004) reicht, hat sich Sembène zugleich als einer der Giganten des afrikanischen Kinos und als einer der großen politischen Filmemacher der Welt etabliert.

Sembène geht es in seinem Werk – seinen Filmen und Romanen gleichermaßen – um eine gleichberechtigte Wahrnehmung der Peripherie, und um die Frage, wie in den unabhängig gewordenen postkolonialen Staaten solidarische Gemeinschaften entstehen können, auch wenn noch immer eine Atmosphäre der Kolonialität vorherrscht, in der sich die kulturellen Vorlieben der alten Eliten und ihre Machtansprüche fortsetzen. Dazu treibt er die Dekolonisierung des Blicks voran, und schafft Voraussetzungen für die Wiedererlangung des eigenen Bildes und der eigenen Geschichte:

„Kino ist populäre Abendschule“

hat er mehr als einmal mit großer Überzeugung festgestellt. Sembène setzt damit auch das Erbe der Griots fort, jener traditionellen westafrikanischen Erzähler*innen, deren Aufgabe darin bestand, Geschichte und Geschichten vorzutragen und lebendig zu erhalten. Mit seiner Tätigkeit als Romancier und Regisseur erfindet Sembène diese historischen Griots als gegenwärtige dekoloniale Geschichten-Erzähler*innen neu. Er sagt von sich:

“Ich glaube, es gibt Parallelen zwischen mir und diesen Geschichtenerzähler*innen, denn in den traditionellen Gesellschaften waren die Geschichtenerzähler*innen ihre eigenen Autor*innen, Regisseur*innen, Schauspieler*innen und Musiker*innen. Und ich glaube, ihre Rolle war sehr wichtig für die Festigung der Gesellschaft. Jetzt, mit den neuen Technologien und den Werkzeugen, die wir uns angeeignet haben, können wir uns von ihnen inspirieren lassen und unsere Arbeit machen.”

Sembène führt diese Arbeit nicht einfach fort sondern erfindet sie neu, und urteilt selbst:

“Das ist es, was ich gerne erreichen möchte. In unserer Kultur waren die Griots traditionell beinahe heilige Figuren, aber heute sind sie zu sehr banalen und gewöhnlichen Personen geworden. Früher waren sie hoch geachtet, weil sie Hüter*innen der Vergangenheit und der Wahrheit waren und die Hüter*innen der Geheimnisse der Gesellschaft.”

Als moderner Griot der Dekolonialität nutzt Sembène Film als Form der Aufklärung und Moolaadé wurde zum Bestandteil zahlreicher internationaler Kampagnen gegen die sexuelle Unterdrückung von Frauen und die grausame Tradition der Genital-Verstümmelung. Dabei drückt Moolaadé einen Optimismus aus, der in der Überzeugung besteht, dass gesellschaftliche Veränderungen möglich sind. Es geht darum, Geschlechterdifferenzen und kulturelle Grenzen gleichermaßen zu überschreiten, und der Film soll als Katalysator für die Diskussion über zerstörerische Traditionen dienen. Moolaadé ist alles andere als simple Propaganda, denn der Film bezieht nuancierte Haltungen gegenüber den Kräften der Tradition und Globalisierung, des Kapitalismus und der Polygamie. Die große Schönheit des Films rührt vermutlich aus dem differenzierten Blick auf die Verflechtungen von Tradition und Moderne, denn Sembène stellt dem missbräuchlichen Ritual der Genitalverstümmelung die positive Tradition des Moolaadé, eines Bannes der Hoffnung gegenüber. Sehen wir, was Ousmane Sembène selbst über seinen Film sagt:

“Ich hatte bei diesem Film in erster Linie ein afrikanisches Publikum im Sinn. Ich wollte nicht die Praxis der Beschneidung in den Mittelpunkt stellen, sondern Männer und Frauen und ihre Reaktionen auf diese Praxis in den Vordergrund rücken. Ich wollte die Widersprüche aufzeigen, die zwei Werte mit sich bringen: das Moolaadé, also das Recht auf Asyl und Schutz, und die Forderung der Gesellschaft, dass die Mädchen sich der Beschneidung unterziehen. Das sind zwei widersprüchliche Werte. Ich wollte betonen, dass die Männer die Beschneidung mit der islamischen Tradition rechtfertigen, was dem Film eine dramatische Struktur verleiht. Dies führt zu Diskussionen in offenen Foren, wenn ich den Film für das afrikanische Publikum vorführe. Hunderte von Menschen besuchen diese Abendvorführungen. Manchmal gibt es Meinungsverschiedenheiten, und oft zeigen wir den Film dann am nächsten Abend noch einmal und setzen die Diskussion fort.”

Moolaadé
Moolaadé (Bann der Hoffnung), SE 2004, Ousmane Sembène

Die Aktivistin und Regisseurin Fatoumata Coulibaly verkörpert im Film Collé, jene starke Frau, die den Bann der Hoffnung ausspricht. Sehen wir zum Abschluss, wie sie ihr eigenes Engagement schildert:

„Schon bevor ich aufgefordert wurde, in diesem Film mitzuwirken, habe ich im malischen Radio und Fernsehen gearbeitet. Mein Job war es, Programme für Frauen und Kinder zu machen, die sich um die Familie drehten. Ich bin in ländliche Gebiete gereist und habe mit den Frauen und allen Menschen dort gesprochen. Dabei ist mir aufgefallen, dass viele junge Mädchen an den Folgen der weiblichen Genitalverstümmelung sterben.
Ich habe einen Dokumentarfilm gedreht, der aber nur einmal im malischen Fernsehen ausgestrahlt wurde, dann hat man das Band versteckt und erklärt, es sei verloren gegangen. Trotzdem wollte ich meine Arbeit fortsetzen und habe begonnen, mit einer NGO zusammen zu arbeiten, die sich aus lauter Frauen zusammensetzt. Wir gingen in die ländlichen Gebiete und haben versucht, über Hygiene und Familie aufzuklären, aber nicht auf Französisch oder Englisch. Wir brachten den Dorfvorsteher und alle Männer, Frauen und Kinder zusammen – alle sind zu diesen Treffen gekommen.
Natürlich fangen wir nicht direkt mit der Frage der Genitalverstümmelung an, sondern wir reden zuerst eine Weile um den heißen Brei herum und kommen erst dann zum Thema. Denn in unserer Gesellschaft ist es immer noch ein Tabu, über Sex zu sprechen, und natürlich wollen viele Dorfvorsteher nichts davon hören. Aber mit viel Beharrlichkeit gelingt es uns, unsere Botschaft zu vermitteln.
So haben wir z.B. Puppen benutzt, um den Körper der Frau bei der Geburt zu zeigen, und wir zeigen ihnen den Schmerz und das Leiden einer Frau, die beschnitten wurde. Wenn wir diese Sachen bildlich darstellen, verbergen die Frauen meistens ihre Gesichter. Aber wir haben es immer wieder geschafft, Strategien dagegen zu entwickeln, um sie durch Humor und ähnliches dazu zu bringen, hinzuschauen und Verantwortung zu übernehmen und das, was wir ihnen zeigen, als Spiegelbild ihres eigenen Körpers zu begreifen.
Nach einer Weile wenden sie ihren Blick nicht mehr ab, sondern dem Körper zu, aus dem ein Baby herauskommt. Natürlich machen wir das alles in Zusammenarbeit mit einer Hebamme. Die Leute stellen Fragen und wir führen einen Dialog. Wir sprechen über die Folgen der Beschneidung, und ich denke, all das hat dazu beigetragen, dass Genitalverstümmelung nicht mehr praktiziert wird.
Als Herr Sembène dann das Casting in Bamako durchführte, fühlte ich mich geehrt, privilegiert und glücklich, dass ich für die Hauptrolle ausgewählt wurde. Ich sage Ihnen, das ist erst der Anfang unseres Kampfes, und ich wünsche mir, dass Sie alle mitmachen und uns unterstützen, damit wir ein positives Ergebnis erzielen können.“

Literatur

Annett Busch and Max Annas (ed.), Ousmane Sembène. Interviews, Jackson: University Press of Mississippi 2008.

Teshome H. Gabriel, Third Cinema as Guardian of Popular Memory: Towards a Third Aesthetics; in: Jim Pines and Paul Willemen (ed.), Questions of Third Cinema, London: BFI 1989.

David Murphy and Patrick Williams, Postcolonial African cinema. Ten directors, Manchester: Manchester University Press 2007.

Françoise Pfaff (ed.), Focus on African Films, Bloomington: Indiana University Press 2004.

Johannes Rosenstein (Hg.), Ousmane Sembène, Film Konzepte 32, München 2013.

Ousmane Sembène, Gottes Holzstücke (1960), Frankfurt/Main: Lembeck 1988.