Tom Waibel
Die Kämpfe gegen die Kolonialherrschaft in Afrika gewinnen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs an Stärke und erreichen in den 1950 Jahren ihren Höhepunkt. Allein im Jahr 1960 werden nicht weniger 17 neue Staaten aus Afrika als stimmberechtigte Mitglieder in die Vereinten Nationen aufgenommen, und mit der Dekolonialisierung des Kontinents wird auch das afrikanische Kino geboren.
In theoretischen Texten und Manifesten der späten 1960er und frühen 1970er Jahre sprechen sich Filmemacher*innen in Argentinien, Brasilien und Kuba für ein revolutionäres Kino aus, das sie als Drittes Kino bezeichnen, und das als transformative soziale Praxis zum Instrument von politischem Wandel und Bewusstseinsbildung werden sollte. Fernando Solanas und Octavio Getino erklären, dieses Dritte Kino sei “die gigantischste kulturelle, wissenschaftliche und künstlerische Manifestation unserer Zeit”, und bringe “die Entkolonialisierung der Kultur” zu Wege. Sie unterscheiden das dekoloniale Dritte Kino vom dominanten, kapitalistischen Ersten Kino nach dem Modell Hollywoods, und dem künstlerischen Zweiten Kino nach dem Modell des europäischen Autorenfilms.
Die Aufteilung von filmischen Zugangsweisen nach politischer Geographie und künstlerischer Ideologie hat Auswirkungen bis in die Gegenwart. In den 1980er und 1990er Jahren wird das Dritte Kino zum “Kino der Subversion” erklärt, und noch um die Jahrtausendwende werden Filme aus den – kurzerhand zur Dritten Welt erklärten – Schwellenländer Hollywood-Großproduktionen und Art-House Filmproduktionen gleichermaßen gegenübergestellt, die abwechselnd als zu kommerziell oder zu formalistisch verurteilt werden.
Am Beginn der 1970er Jahre kommen Filmemacher*innen aus dekolonialisierten Ländern aller Kontinente zusammen, um im unabhängigen Algerien Resolutionen für die Werke des Dritten Kinos zu proklamieren. 1973 in Algier fordern sie die Produktion von Filmen,
die die objektiven Bedingungen widerspiegeln, unter denen sich die kämpfenden Bevölkerungen entwickeln…, die den Abbau der Entfremdung der kolonisierten Völker bewirken und zugleich fundierte und objektive Informationen für die Völker der ganzen Welt liefern.
Zur Zeit dieser Resolutionen ist das afrikanische Kino in Entwicklung begriffen, und das neue lateinamerikanische Kino hat bereits zu florieren begonnen, aber beiden geht es darum, Kultur zu dekolonalisieren und das eigene filmische Bild von den ehemaligen Kolonialherren zurückzufordern. Kritiker*innen und Filmemacher*innen haben seither immer wieder betont, dass das Dritte Kino auf Fragen nach einem kollektiven “Wir” antwortet, indem es die “objektiven Bedingungen” in den Entwicklungsländern widerspiegle und die koloniale, postkoloniale und neokoloniale Geschichte aus der Perspektive einer Dekolonialität neu zu schreiben versucht.
Parallel dazu gibt es aber auch eine Geschichte von Filmemacher*innen, die die Untersuchung der individuellen psychologischen Realität des europäischen Autorenkinos und der weltweiten Art-house Kino-Produktionen durch die Erkundung von postkolonialen Individuen in ihren konkreten historischen und politischen Kontexten ersetzen, und die eine selbst bestimmte und dekoloniale Ausdrucksform der ersten Person für das Dritte Kino zurückfordern.
Diese Filmemacher*innen weisen Ethnographie und visuelle Anthropologie gleichermaßen von sich, und experimentieren mit formalen Möglichkeiten, um Fiktion und Geschichte, Spiel- und Dokumentarfilm miteinander zu mischen. Sie bringen die simplistische Bestimmung von Realismus durcheinander, unterwandern die Trennung zwischen Zweitem und Drittem Kino, zwischen Kunst und Politik, und eröffnen dem zeitgenössischen afrikanischen Kino ein breites Spektrum an Möglichkeiten.
Der große Pionier dieses subjektiven und experimentellen Kinos war zweifellos Djibril Diop Mambéty, mit dessen richtungsweisend Touki Bouki von 1973 die Filmreihe Rise Up! eröffnet wurde. Abderrahmane Sissako, dessen Weltgericht von Bamako von 2006 als nächstes auf dem Programm steht, hat sich selbst wiederholt als Erbe von Mambéty bezeichnet. Sissakos Werk geht weit über den konventionellen Gegensatz zwischen politischem Kino und künstlerischem Kino hinaus, denn er dreht Filme, in denen individuelle Geschichten mit der Analyse kolonialer und postkolonialer Geschichten verknüpft werden.
Abderrahmane Sissako wird 1961 in Kiffa, Mauretanien, geboren, wo die Familie seiner Mutter lebt, und er verbringt seine Kindheit im Haus seines Vaters in Mali. Erst gegen Ende seiner Schulzeit kehrt er kurzzeitig nach Mauretanien zurück, das er im Alter von neunzehn Jahren wieder verlässt, denn er hat ein Stipendium erhalten, um am Staatlichen Filminstitut in Moskau zu studieren. Sissako erzählt von seinem Studium in den 1980ern, dass er sich fünf Jahre hindurch im Durchschnitt mindestens drei Filme pro Tag angesehen habe, und dabei alle großen Autor*innen des europäischen Kinos entdecken konnte, aber keinen einzigen afrikanischen Film gesehen hat.
Sissako verbringt mehr als ein Jahrzehnt in der Sowjetunion und lebt seit ihrem Zusammenbruch am Beginn der 1990er Jahre in Frankreich. Seine Filme sind, wie sein Leben, in einem außergewöhnlichen Sinne kosmopolitisch, er reist viel und bleibt dennoch in Afrika verwurzelt. Sissako bringt diese Verwurzelung in Das Leben auf Erden (La vie sur terre) von 1998 in einem Brief an seinen Vater zum Ausdruck:
Besitzt das, was ich weit weg von dir gelernt habe, einen solchen Wert, dass ich uns je vergessen könnte?
Mit seinem erstaunlichen Werk gelingt Sissako der Nachweis, dass auch formal experimentelle Filme zugleich politisch und ästhetisch revolutionär sein können und er bezieht sich wiederholt auf Aimé Césaire, der in seinem Notizbuch einer Rückkehr in die Heimat festhält:
Hüte dich davor, die Arme in der sterilen Haltung eines Zuschauers zu verschränken, denn das Leben ist kein Spektakel… und ein Mensch, der schreit, ist kein Tanzbär.
Das Weltgericht von Bamako von 2006 erscheint auf den ersten Blick viel mehr den Grundsätzen des Dritten Kinos zu entsprechen als irgendeiner der anderen Filme von Sissako, denn dieser offenkundig politische Film zeigt einen Prozess, in dem die Weltbank und der Internationale Währungsfonds verklagt, und die Verbrechen und Schäden der internationalen Einmischung im Zeitalter der Globalisierung aufgezeigt werden. Doch trotz seiner scheinbaren Geradlinigkeit ist Bamako formal höchst innovativ und komplex: Die Prozessszenen sind etwa mit vier Kameras gefilmt worden, eine davon ist fast immer im Bild zu sehen, und erinnert daran, dass dieses Weltgericht doch „nur“ eine filmische Inszenierung ist.
Neben solchen reflexiven Strategien baut Sissako auch persönliche Elemente und dokumentarische Strategien in den Film ein: So ist der Prozess im Innenhof des Wohnhauses von Sissakos kurz davor verstorbenem Vater gedreht, in demselben Haus, in dem der Regisseur aufgewachsen ist. Anstelle von Schauspieler*innen setzt Sissako im Prozess echte, das heißt praktizierende Anwälte und Richter*innen ein, und bringt ebenso echte Zeug*innen, etwa die Schriftstellerin, Aktivistin und ehemalige Kulturministerin von Mali, Aminata Traoré, oder einen Bauern und Griot aus dem Süden von Mali. Sie alle tragen im Film ihre eigenen Namen und haben an der Formulierung ihrer Aussagen und der Abfassung der Dialoge mitgewirkt.
Außerdem verwischt Sissako die Grenzen zwischen den filmischen Genres, er bringt einen Film in den Film ein, und inszeniert einen Timbuktu-Western, der die Erzählstränge von Bamako miteinander verschlingt. Sissako erinnert daran, dass er – wie viele andere afrikanische Filmemacher*innen auch –, seine erste Begegnung mit dem Kino durch Kung-Fu-Filme, Hindi-Musicals und eben durch US-amerikanische Western gemacht hat. Timbuktu ist aber auch der Titel eines großartigen Films, der Sissako 2014 gedreht hat, und der die Besetzung von Nordmali durch islamistischen Dschihadisten zum Thema macht.
Hören wir abschließend, wie Abderrahmane Sissako selbst über das Weltgericht urteilt:
Bamako ist zweifellos mein direktester Film, was sein Thema angeht. Das ist etwas, was ich nicht mag, das entspricht mir nicht. Darum habe ich darauf geachtet, in jedem Moment einen Kontrapunkt zu setzen… Man kann in Afrika sein und trotzdem einsam sein, so wie überall… Auch wenn die Stärke dieses Kontinents in seiner Fähigkeit liegt, das Wenige, das es gibt, mit allen zu teilen. Aber auch in diesem kollektiven Leben kann der Mensch alleine sein.
Literatur
Imruh Bakar, Mbye Cham (ed.), African Experiences of Cinema, London: British Film Institute 1996.
Aimé Césaire, Cahier d’un retour au pays natal, Paris: Bordas 1947.
Rosalind Galt, Karl Schoonover (ed.), Global Art Cinema, New York: Oxford University Press 2010.
Kate Ince, Ethics, universality and vulnerability in Abderrahmane Sissako’s Bamako and Timbuktu, in: Paragraph 41 (2) 2018.
Resolutions of the Third World Film-Maker’s Meeting, Algiers, Algeria 1973.
Fernando Solanas, Octavio Getino, Towards a Third Cinema (1969), in: Scott McKenzie (ed.), Film Manifestos and Global Cinema Culture, Berkeley: University of California Press 2014.
Clotilde Pégorier, Lars Waldorf, Dis-Affective Justice in Abderrahmane Sissako’s Bamako, in: Polemos 16 (2) 2022.
Jim Pines, Paul Willemen (ed.), Questions of Third Cinema, London: British Film Institute 1989.