Am 7. September zeigten wir im Rahmen unserer Rainer-Werner-Fassbinder-Retrospektive Nicolas Wackerbarths Casting. Ein Film, der in einen bewussten Dialog mit dem Erbe von Fassbinder tritt, in dem er ein Casting zu einer Adaption von Die bitteren Tränen der Petra von Kant beleuchtet. Christoph Huber und Patrick Holzapfel haben sich mit Wackerbarth an einen Tisch gesetzt und über den Film, Fassbinder und das Schauspiel diskutiert.
Christoph Huber: In deinem Film geht es um die Adaption von Die bitteren Tränen der Petra von Kant. Mit Fassbinder lädt man sich ja durchaus etwas auf, oder? Wie war da deine Herangehensweise?
Nicolas Wackerbarth: Da gibt man natürlich jedem Kritiker erstmal einen Prügel in die Hand und fleht ihn geradezu an, dass er dich damit schlagen soll. Aber das passt ja auch irgendwie zu Fassbinder (lacht). Dann kam mir die Idee mit dem Genderwechsel, also das man einmal ein lesbisches Paar zeigt und einmal ein Männerpaar. Dann noch eine ältere Frau und einen jüngeren Mann zusammen und dadurch wird der Text immer wieder neu hinterfragt. Das war für mich der Schlüssel sich zu trauen, Fassbinder im Film zu benutzen. Petra von Kant ist ja eigentlich ein Theaterstück, das meist gespielte Stück von Fassbinder. Es gibt auf der ganzen Welt hunderte Petra von Kants. Vielleicht erschien mir auch deshalb die Umsetzung nicht wie das Schlachten einer heiligen Kuh. Ich komme selbst vom Theater. Für mich war das erstmal ein Text. Und ich hatte Fassbinder in meinem Leben zuerst als Schriftsteller wahrgenommen. Ich habe zum Beispiel Katzelmacher zuerst auf der Bühne gesehen. Das hilft, um ihn nicht als unantastbaren Heiligen anzusehen, sondern als jemand, der selbst auch mit fremden Textmaterial gearbeitet hat.
Christoph Huber: Er war da ja auch sehr frei, wenn er andere Theaterstücke bearbeitet hat…
Nicolas Wackerbarth: Ja, auch im Umgang mit Autoren wie Döblin oder Kroetz… trotzdem hatte ich immer noch große Angst, da ich den Film sehr mag und ich ja nichts für die Bühne, sondern fürs Kino machen wollte. Im Verlauf der Arbeit zeigte sich aber immer mehr, wie gut sich unsere Geschichte vom erfolglosen Schauspieler Gerwin mit der der erfolgreichen Modemacherin Petra von Kant spiegelt. Sie kann ja zu Beginn des Films keine Nähe mehr zu ihren Mitmenschen spüren. Wenn sie jemanden kennenlernt, denkt sie gleich darüber nach, ob sie nicht in ihrer Machtposition und aufgrund ihrer finanziellen Möglichkeiten ausgenutzt wird. Und ihre Mitmenschen erschrecken vor ihrer kreativen Potenz. Das ist der Preis des Ruhms, den sie zahlen muss. Da gibt es eine Nähe zu Fassbinder. In dieser Hinsicht kann man den erfolglosen Gerwin als Referenz an mich sehen (lacht). Jemand, der versucht nach vorne zu kommen, um überhaupt mal wahrgenommen zu werden. Gerwin kann sich solche Gefühle, die Petra von Kant empfindet, gar nicht leisten. Er versucht nur verzweifelt, ein Stück Aufmerksamkeit zu erhaschen. Das wird dann gerade im Abgleich mit dem Melodram das Fassbinder erzählt, auch zu einem Spiegel auf die neoliberale Gesellschaft. In Fassbinders Film übers Filmemachen Warnung vor einer heiligen Nutte wird exzessiv gesoffen, gefeiert und gefickt. In meinem Film dagegen kommt keine Liebe vor. Alles ist nur auf die Berufswelt gerichtet. Jeder versucht verzweifelt arbeiten zu dürfen. Sie betteln darum ausgenutzt werden zu dürfen. Das war mir wichtig und zeigt sich klarer mit dem Referenzraum von Fassbinders Werk und Person.
Patrick Holzapfel: Also auch eine Gegenüberstellung der Film- und Fernsehwelt der 1970er Jahre mit der von heute?
Nicolas Wackerbarth: Damals gab es ja viele alternative Lebensentwürfe. Fassbinder arbeitete und lebte eine Zeit lang als Künstler im Kollektiv, bis die Frage aufkam, wie viel davon sich zur Diktatur wandelte. Diese Ideen eine alternative Lebensform auszuprobieren sind in der heutigen Schauspielbranche nicht mehr existent. In den 1970er Jahren war es allerdings auch leichter ein Engagement zu bekommen und der Druck war nicht so groß. Da konnte man als Schauspieler auch mal zwischendrin 2 Jahre aussteigen und in der Toskana Oliven pflücken, ohne gleich Angst haben zu müssen, dass man danach den Anschluss verliert und keinen Job mehr bekommt. Heute gibt es im Theater wieder Kollektive. Das kam aber zumindest in Deutschland erst in den letzten Jahren wieder auf. In den 1990er Jahren und um die Jahrtausendwende war das noch nicht so verbreitet. Ich glaube, dass diese Entwicklung eine Reaktion auf das System des Staatstheaters und des Staatsfernsehens ist, das in den letzten Jahren durch Machtmissbrauch und die Kritik an den dort herrschenden Machtverhältnissen erschüttert wurde. Dass sich Schauspieler hier am Burgtheater zu einem Brief aufgerafft haben und sich bewusst gemacht haben, dass sie in einem solchen System gar nicht mehr arbeiten wollen, ist erst im Jahr 2018 passiert. Ein System, in dem die Angst regiert, wird offenbar nicht mehr hingenommen.
Patrick Holzapfel: Du hast betont, dass du vom Theater kommst. Was mich in dem Zusammenhang interessiert, ist eine größere Frage zum Schauspiel. Wenn ich an Fassbinder denke, dann fließt dort der Schauspielbegriff ineinander vom Theater zum Film und so weiter. Jetzt ist dein Film in meinen Augen vor allem ein Film über Schauspiel. Ziehst du da eine klare Grenze zwischen Film und Theater? Und ist dein Film ein Film über Schauspieler im Fernsehen oder Schauspieler im Film oder allgemein?
Nicolas Wackerbarth: Erstmal ist das ein Film, in dem Schauspieler Schauspieler spielen. Dadurch gibt es eine Dopplung, die das Ganze interessanter macht, weil du immer zwei Ebenen hast. Die Schauspielerinnen können sich sozusagen selbst kommentieren. Dadurch wird auch für den Zuschauer deutlich, dass ein Film nicht die Realität, sondern nur die Realität einer Reflektion sein kann. Die Spielweise ist das Gegenteil von Fassbinders abstraktem Schauspielstil. Es gibt authentische Momente, die sich abwechseln mit einem kommentierenden, überspielten Gestus. Das kommt aus der dramaturgischen Setzung heraus. Dieses Spiel zwischen Dokument und Fiktion, Privatem und Rolle fand ich interessant. Denn darin liegt auch die Frage, was ein Charakter ist. Eine Kritikerin hat geschrieben, dass unsere Hauptfigur Gerwin gar keinen Charakter habe. Dass der auf der Suche nach einem Charakter ist. Und das stimmt. Denn ein Charakter ergibt sich doch vor allem aus den sozialen Verhältnissen, in denen sich jemand befindet. Danach richtet sich der Mensch aus. Diese zu untersuchen, interessiert mich mehr als die ererbten Anlagen oder die Psychologie. Gerade in der Abhängigkeitssituation zwischen Regisseur und Schauspieler kann man das gut reflektieren. Welche Abhängigkeitsmechanismen greifen da? Wird man gesehen oder nicht? Jemand, der nicht gesehen wird, hat heute das Gefühl, er ist nicht existent. Ich denke dabei vor allem an die Sozialen Medien. Das ist doch erschreckend. Dadurch herrscht ein irrsinnig hoher gesellschaftlicher Erwartungsdruck, den keiner erfüllen kann. Denn große Aufmerksamkeit kann natürlich nur wenigen zuteil werden. Schauspieler wiederum müssen sich dem in ihrem Beruf ständig aussetzen.
Patrick Holzapfel: Und in einem Casting nochmal besonders, oder?
Nicolas Wackerbarth: Da stellt sich nie die Frage, ob das ein guter oder ein schlechter Schauspieler ist. Denn das ist nicht messbar wie beim Sport, sondern subjektiv. Der eine fühlt sich ganz verbunden, findet den Schauspieler grandios, der andere kann ihn nicht ausstehen. Diese subjektive Entscheidung offenbart sich bei einem Casting oft schon im ersten Moment, wenn ein Schauspieler zur Tür reinkommt. Dadurch ist der Schauspieler ausgeliefert und nackt. Das ist eine sehr aufgeladene Situation. Für einen Film ist das eine interessante Situation, weil die Frage im Raum steht: Liebst du mich? Was kann ich tun, damit ich geliebt werde? Und darüber hinaus: Wer bestimmt das? Die Regisseurin oder der Produzent oder die Fernsehredakteurin?
Christoph Huber: Ich finde ja, dass Gerwin sehr stark charakterisiert ist und zwar genau durch diese Art, sich immer wieder anzupassen und indem er gar keine Zeit hat, mit seinem eigenen „Charakter“ in diese Situationen zu gehen.
Nicolas Wackerbarth: Das betrifft alle Figuren. Alle stehen auf der Kippe. Ich denke da zum Beispiel an die Rolle von Corinna Kirchhoff. Sie tritt als Star mit großer Anerkennung auf und verlässt das Feld wie eine geschlagene alte Schauspielerin, die keine Rollen mehr bekommt.
Christoph Huber: Darüber wird ja auch geredet, wenn sie ankommt. Und ich finde das ein gutes Element in deinem Film, der ja etwas Satirisches an sich hat…also im Bezug auf das, was in der Fernsehbranche passiert: das Wegdrängen älterer Frauen oder dieses absurde Projekt an sich zum runden Jubiläum von Fassbinder mit dem Denken an größere Publikumsfreundlichkeit via einer heterosexuellen Beziehung. Das sind Dinge, die lustig sind, weil sie ja genau so vorstellbar sind. Eine Realsatire also.
Nicolas Wackerbarth: Genau. Die Hauptrollen werden zu 70% von Männern gespielt und Frauen über 40 haben es ganz schwer. Das ist ein krasses Missverhältnis und ein großes Problem. Das kam in den Film über diese Dopplung, diese Kommentarebene rein, weil es ein persönliches Anliegen von Corinna Kirchhoff ist und sie sich viel damit beschäftigt. Eine Satire wie kann auf so einen Missstand hinweisen und wirft die Frage in den Raum, ob das überhaupt so sein muss oder ob man das nicht ändern kann. Durch die Fassbinder-Setzung kann man sich ausserdem fragen, warum es früher im deutschen Fernsehen so viel mehr experimentelle Filme gab. Das ist ja keine Mär. Dazu gibt es belegbare Zahlen von Medienwissenschaftlern.
Patrick Holzapfel: Jetzt ist dein Film aber nicht experimentell, sondern wählt eine konventionelle Herangehensweise. War das für dich von Anfang an klar, dass du diesen Film so erzählen musst?
Nicolas Wackerbarth: Für mich war klar, dass wenn ich etwas über diesen gesellschaftlichen Erwartungsdruck erzählen will, über diesen Erfolgsdruck, den sich Schauspieler, die unbedingt ins Rampenlicht wollen, ja zum Teil auch selbst machen, dann musst du das als Komödie erzählen, nicht als Tragödie. Den Unterschied zwischen Selbstmitleid und existentiellen Problemen sollte man kennen. Wir hatten also keine Angst davor, die Konventionen des Boulevardtheaters einfließen zu lassen. Das ist nicht unbedingt experimentell, aber die Reibung mit den authentischen Momenten die durch die Improvisation im Film entstehen, macht es dann schon wieder eigen. Da die Schauspieler nicht wussten, was auf sie zukommt, trafen sie absurde Wendungen unmittelbar. Wenn sich Schauspieler so mutig darauf einlassen, wie sie das bei uns getan haben, dann bekommt das eine emotionale Wucht. Als zum Beispiel die Casterin gefeuert wurde, war das ein totaler Schock für sie und ergab eine extreme Situation. Die haben wir zwar nicht in den fertigen Film reingenommen, aber es zeigt, dass diese Arbeitsweise auch Emotionen hervorbringen kann, die in Verbindung mit den komödiantischen Setzungen eine interessante, sperrige, unreine Mischung entstehen lassen. Unser Film orientiert sich da nicht einfach an den Mitteln der Moderne, sondern schaut auf zu klassischen Hollywoodfilmen… wie His Girl Friday von Howard Hawks…es ist der Versuch Erzählräume in einem Genre zu finden. Und das ist nicht so leicht. Ich finde, dass zur Zeit so etwas zu selten versucht wird… zumindest nicht in Filmen, die ich ernst nehmen kann. Vielleicht schrecken viele davor zurück, sich erst mühsam durch die Konventionen des Erzählkinos durchkämpfen zu müssen. Das finde ich schade, weil darin große Möglichkeiten liegen, komplexe Dinge zu erzählen. Denken wir an Filme von Rohmer wie L’Arbre, le Maire et la Médiathèque.
Christoph Huber: Auch ganz widersprüchliche Dinge…etwas, das zunächst ganz glatt erscheint, ist es vielleicht gar nicht.
Nicolas Wackerbarth: Du kannst verschiedene Erzählebenen einziehen und so Widersprüche aufzeigen. Ich vermisse das auch bei manchen Festivalfilmen, die nur scheinbar radikal sind und sich auf formalen Ideen ausruhen.
Christoph Huber: Wie weit war das vorbereitet, was den Schauspielern zur Improvisation übergeben wird?
Nicolas Wackerbarth: Ich denke immer vom Text, vom Dialog aus. Wir haben sehr viele Dialoge geschrieben und daraus die Situationen gebaut. Am Ende hatten wir circa 70 Seiten Fließtext mit ausführlichen Szenenbeschreibungen und etlichen Dialogfetzen. Beim Drehen lege ich das zur Seite und spreche vor der Improvisation einzeln mit jeder Schauspielerin. Ich gebe jeder bestimmte Aufgaben, dann gehen sie gemeinsam in einen Raum und versuchen diese umzusetzen. Sie können nicht abschätzen, wie die jeweils Andere reagiert, da sie deren Aufgabe nicht kennen. Dann wiederholen wir dieses ganze Spiel und haben mittags eine Krise. Nach der Pause machen wir es noch mal und langsam wird es besser. Ich kann dadurch von den Schauspielerinnen viel lernen, weil ich merke, welche meiner Anweisungen zu ungenau oder einfach falsch waren. Mein Ideal ist, dass sich eine Szene von selbst spielt. Deshalb unterbreche ich auch nie, um diese Möglichkeit zu erhalten. Sie spielen meist eine knappe Stunde, später formen wir das dann im Schnitt.
Patrick Holzapfel: Anschließend daran, es mag klingen wie eine Meta-Frage, aber es interessiert mich wirklich: Wie bist du denn an diesen Film herangegangen bezüglich des Castings? Reflektiert man das dann anders?
Nicolas Wackerbarth: Für mich ist das Wichtigste beim Casting zu erfahren, was zwischen den Schauspielern passiert. Ich achte darauf, wie sie aufeinander reagieren. Für eine Schauspielerin ist ein Casting entspannter, wenn es noch keine vorgeschriebene Rolle gibt. Denn dann gibt es auch keinen Erwartungsdruck, etwas erfüllen zu müssen. Bei mir konnte man einfach unvorbereitet auftauchen, bekam eine Aufgabe und reagierte auf den Spielpartner. Dann musste ich halt selbst schauen, ob das für unsere Geschichte funktioniert. Oder ob es die Geschichte, die ich mit meinen Ko-Autor Hannes Held entworfen habe, sogar bereichert und wir was verändern müssen. Diese Improvisationen hatten manchmal etwas mit unserem Film Casting zu tun. Manchmal aber auch nicht. Bei einem Casting versuche ich die Hierarchie möglichst flach zu halten, indem ich alles alleine mache, selber den Schlüssel hole, selber filme und mit der Wasserflasche rumlaufe in so einem Probenhaus, in dem Off-Theater-Gruppen sich treffen. Es soll bloß nicht so ein Latte macchiato-Loft sein. Ich überlege mir die Improvisationen immer erst vor Ort, damit auch hier der Druck erstmal bei mir ist und die Schauspieler sich entspannen können. Auf diese Weise können sie sowohl mehr von sich zeigen als auch von ihrer Fantasie.