Michael Glawogger über “Whores’ Glory”

An diesem Thema reizen mich ganz verschiedene Aspekte. Und ich finde es ein wenig seltsam, wie Prostitution im Moment in unserer Gesellschaft diskutiert wird: Nach mehreren tausend Jahren Menschheitsgeschichte tut man nun so, als könnte man sie einfach abschaffen. Das kommt mir so blauäugig vor, als würde man sagen: „Lasst uns keinen Krieg mehr haben, weil das ist ja böse“. Das funktioniert so nicht. Es funktioniert auch nicht mit allen Versuchen, die man auf der Welt je gemacht hat. Egal, ob man Prostitution unter Strafe – selbst unter Todesstrafe – gestellt hat, ob man die Freier stigmatisiert oder gesagt hat: „Die gehören alle ins Kriminal“. Das nützt genau gar nichts, und alle wissen das. Je mehr man das Ganze kriminalisiert, desto mehr leiden die Frauen, die in diesem Bereich arbeiten. Ich glaube, der wahrscheinlich einzige Weg, es irgendwie in den Griff zu kriegen, ist, es halbwegs fair zu gestalten. Also dass die Frauen möglichst viel davon haben oder möglichst viel dafür kriegen. Wenn ich es kriminalisiere, dann öffne ich Tür und Tor dafür, dass sie wenig kriegen und von Zuhältern ausgebeutet werden.

Whores’ Glory, 2011, Michael Glawogger
© GMB Akash

Erstens lebe ich nicht nur in Österreich, und wir alle leben nicht nur in Europa. Wir leben auf der Welt. Wenn man Globalisierung ernst nimmt, dann muss man die Welt als Ganzes begreifen. Und zweitens bin ich in meinem Blick nicht eurozentriert. Ich bin eher darauf sensibilisiert, dass ich verschiedene Kulturkreise, verschiedene soziale Schichten, verschiedene Religionen miteinander in eine Balance bringen will oder in eine Reibung, die dann vielleicht zu einem konstruktiven Anschauen führt.

Wenn man den Film als Triptychon nimmt, wie ich es beschrieben habe, dann gibt es den Himmel, die Welt und die Hölle. So hat es auch Hieronimus Bosch gemalt. Das Triptychon ist ja eigentlich ein katholisches Konzept. Und mein Blick ist letztendlich auch ein katholischer. Deswegen habe ich den Katholizismus gleich in die Hölle geschoben. Mich hat an diesem Aufbau interessiert, ein Triptychon mit drei Religionen zu machen. Das fand ich einen spannenden Ansatz, also dass der Buddhismus in seiner Leichtigkeit links steht. In der Mitte geht‘s schon mehr ans Eingemachte. Die Welt heute wird sehr stark über den Islam diskutiert, und der Katholizismus steht irgendwie für Todesnähe oder für Schuld. Ich nenne mich selbst immer einen katholischen Agnostiker. Denn selbst als Agnostiker bin ich katholisch aufgewachsen und sehr geprägt davon. Das hat sehr viel mit Schuld zu tun. Vielleicht macht uns der Sex mehr Spaß, wenn wir uns dabei schuldig fühlen. Das sind alles Themen, die da drinnen sind.

Man ist nirgends auf der Welt so unwillkommen mit einer Kamera wie in einem Bordell. Ein bisschen ist mir zugutegekommen, dass Journalisten sich meistens sehr schlecht benehmen. Journalisten kommen, haben schon eine Meinung über das Ganze, machen schnell ein paar Fotos oder einen Film und verschwinden wieder. Bei uns ist es eher gewesen wie mit einer schwierigen, sich langsam aufbauenden Freundschaft.

Oder wie mit Kunden, und wie die sich verhalten. Manchmal kommen Männer hin, ficken einmal und gehen wieder. Aber wenn du öfter hinkommst und ein tieferes Interesse zeigst, dann interessieren sich die Frauen auch für dich und dafür, was du machst. Dadurch wurde es für mich irgendwie einfacher. Ich habe gesagt: „Ihr könnt mich anlügen, ihr könnt tun, was ihr wollt, ich werde es genauso herzeigen.“ Ich hinterfrage das nicht. Es ist ja ein gewisses Maß an Schauspielerei dabei. Wenn man Sex verkauft, spielt man auch etwas vor. Und ich habe das eigentlich fast zur Regel erklärt. Ich habe gesagt: „Egal, erzählt mir, was immer ihr wollt; wenn ihr gute Geschichten oder eine eigene Realität erfindet, ist es mir auch recht. Das ist Teil eures Berufes.“ Das haben sie unglaublich gut verstanden. Und auch die Kunden haben das verstanden. Die haben sofort gesagt: „Lass mich auch einmal was sagen. Wir dürfen nie was sagen, wir sind immer nur die Bösen.“

Wenn du einen längeren Prozess beginnst, jeden Tag da bist und mit den Leuten einen gewissen Alltag teilst, dann nehmen sie dich irgendwann ernst und steigen auf den Prozess ein. Es ist dann, als wollten sie verstanden werden, warum sie tun, was sie tun – auch wenn dann der Papa oder der Onkel oder der Freund wissen, dass sie als Prostituierte arbeiten.

Bei meinen meisten Filmen war immer klar, was ich am nächsten Tag drehe, aber bei Whores’ Glory habe ich es nie gewusst, weil ich immer von den Prostituierten abhängig war. Viele waren extrem launisch, teilweise auch aggressiv, oder haben gesagt: „Jetzt sage ich dir was. Wenn du nicht sofort kommst mit der Kamera, dann bist du wieder weg.“ Oft war es ein Kampf, aber einer, den man gern geführt hat, weil es auch sehr herzlich war.

Die einzigen, die sich auch für die anderen Teile [des Films] interessiert haben, waren die Mexikanerinnen. Und es war, wie wenn man mit seiner Familie ein Fotoalbum durchblättert. Alle interessiert am meisten, wie sie auf den Bildern ausschauen. Drum habe ich zu meinem Kameramann gesagt: „Die Frauen wollen ihr Leben lang super ausschauen, und das müssen wir uns vornehmen!“ Das meint auch der Titel des Films. Wir haben alle so fotografiert, wie sie ausschauen wollen. Das typischste Beispiel war die Mexikanerin Kubana, die ihre Brüste herausholt, während sie aus ihrem Berufsleben erzählt. Die habe ich dann gefragt, „Wie geht es dir, wenn du das siehst? Genierst du dich?“ Darauf sie: „Nein – alles, was ich erzählt habe, ist wahr und wunderbar. Aber schauen meine Titten gut aus?“ Dort kommt es auf den Punkt, so schauen sie selbst den Film an. Es ist, wie wenn wir unsere eigene Stimme hören, denn wir reagieren ja auch nicht anders. Wenn ich ein Foto von mir sehe oder mich selbst auf der Leinwand, dann denke ich zuerst: „Mein Gott, wie schaue ich aus?“

Whores’ Glory, 2011, Michael Glawogger
© Maya Goded

Sehr interessant war auch folgende Szene: Eine der Mütter, also der Zuhälterinnen in Bangladesch, wurde plötzlich ganz aufgeregt, als sie sich selbst auf dem Bildschirm gesehen hat, hat hingezeigt und gesagt: „Was diese Frau da sagt, ist wahr.“ Darauf ich: „Das bist doch du!“, und sie sagt: „Ja, das ist ja völlig wurscht, aber die ganze Welt soll es hören, weil es ist wahr.

Die Kommunikation mit den Gefilmten ist, wie wenn du dich mit jemandem anfreundest: Du erzählst von dir. Aber das Segment, in dem ich arbeite, ist sehr altmodisch. Ein Dokumentarfilm fürs Kino, das ist mittlerweile schwer begreiflich zu machen. Sie verstehen Fernsehen, sie verstehen Internet. Aber wenn ich sage, da kommen auf der ganzen Welt Leute, setzen sich in einen Raum und schauen sich das an – das ist schwierig. Und wenn ich sage, es ist nicht Reportage, es ist Kunst, dann ist es noch schwieriger. Sie verstehen dann nicht wirklich, wovon ich spreche. Wobei ich glaube, sie würden es sofort verstehen, wenn sie hier sitzen – aber dort gibt es praktisch keine Möglichkeit mehr dazu, was ja irgendwie auch zeigt, wie altmodisch es ist. In Bangladesch soll es jetzt zwar ein Kino geben, aber da kommen sie nicht hin oder würden auch nicht hingehen, weil sie in ihrem Zimmer eh einen Fernseher haben.

Ich versuche immer, alles ganz offen zu erklären, ich trickse nicht herum. Ich erzähle, wer ich bin und was ich tue; sie finden das dann zwar ein bisschen verrückt, sagen aber: „Ja, gut, kann man machen …“

Ich habe bemerkt, das Thema interessiert mich. Und je mehr dich etwas interessiert, desto mehr weitere Themen eröffnen sich. In meinen anderen Filmen haben die Leute oft über Prostitution geredet, oder sie ist am Rande vorgekommen. Im Film Megacities gab es eine Striptease-Tänzerin, die sich in einem fast spirituellen Akt für Männer auszieht und sich von ihnen angreifen lässt. Diese nur vier- oder fünfminütige Stelle war einer der meistdiskutierten Sequenzen in diesem Film. Schon damals habe ich mir gedacht, ich würde gern mehr wissen über diese Mischung aus Religion, Überhöhung und Sexualität. Man könnte die eigenen frühen Filme als „Kinder“ bezeichnen, die ihrerseits beginnen, Fragen zu stellen. Also je mehr Filme man macht, desto mehr Filme hat man vor …

….

Ich bin grundsätzlich viel zu – ich sag mal – artig oder wohlerzogen, um Leute zu etwas bringen zu wollen, das sie sonst nicht tun würden. Wobei das auch mit kulturellen Faktoren zu tun hat. In Bangladesch würde ich nie auf die Idee kommen, eine Frau zu fragen, ob sie sich auszieht. Das tut auch kein Kunde, der sieht die Frau nie nackt. Sie schiebt den Sari hoch, und das war’s. Alles andere würde viele Grenzen überschreiten und schon im Ansatz fundamental falsch sein. In Thailand ist das ganz anders. Dort wäre das den Mädchen vollkommen egal, und sie würden es sofort machen. Schwierig ist hingegen, dass Prostitution in Thailand offiziell gar nicht existiert. Der König von Thailand sagt, es gibt keine Prostitution, und somit gibt es keine Prostitution. Man kann also auch nicht danach fragen, geschweige denn ein Dreh-Ansuchen stellen. Das wird teilweise so absurd, dass man es gar nicht glaubt, und ist gleichzeitig eine Sache des Respekts gegenüber den Leuten. Ich habe einen Mann von der Zensurbehörde neben mir sitzen, der sagt, was in dieser Kultur geht und was nicht. Wenn ich mich nicht daran halte, verliert der seinen Job. Wenn also etwas nicht vorkommt im Film, dann gibt es dafür Gründe …

Ich glaube, dass keine Prostituierte auf der Welt etwas kostenlos macht. Das findet nicht statt, und zwar zu Recht. Auch das ist eine Frage des Respekts. Ich gebe immer etwas, nicht nur Prostituierten. Ich finde, wenn jemand sein Leben mit mir teilt und mir etwas gibt, das ich auf die Leinwand bringen kann, dann gebietet es der Anstand, dass er etwas dafür bekommt. Es muss nicht immer Geld sein. Ich finde es eine Ungeheuerlichkeit, dass viele glauben, es entsteht mehr Wahrheit auf der Leinwand, wenn sie nichts gekostet hat. Das stimmt hinten und vorne nicht, besonders bei diesen Frauen. Sie geben mir ja nicht nur ihre Geschichten, sie geben mir auch ihre Zeit, lassen Kunden dafür sausen und zeigen mir etwas, das ich sonst nicht zu sehen bekäme. Selbstverständlich müssen sie dafür auch etwas bekommen. Viele Leute glauben, dass die Personen im Film, wenn ich sie dafür bezahle, das sagen oder tun, was ich will. Aber das ist ein vollkommener Irrglaube. Sie wissen ja gar nicht, was ich hören will – und wenn sie flunkern, dann merkt man das, weil es nicht mehr authentisch wirkt. Und ich glaube, dass das Kinopublikum ein gutes Sensorium dafür hat, ob etwas wahrhaftig ist oder nicht.

Michael Glawogger bei den Dreharbeiten von Whores’ Glory
© Maya Goded

Mit den Menschen in Kontakt zu kommen, kann ein ganz einfacher Vorgang sein. Viele sagen nein, aber dann kommen andere und sagen „Ich habe gehört, du machst das, ich will mitmachen“. Es gibt also beides: Ich suche sie aus, und sie suchen mich aus. Bei diesem Film kamen viel mehr Frauen, die schon ein ganzes Leben Berufserfahrung hinter sich hatten; die sind weniger scheu und haben auch mehr zu erzählen. Schwieriger war es, die neuen Mädchen oder Frauen vor die Kamera zu kriegen. Ich mache die Recherche, aber nicht allein. Im Fall dieses Filmes war das teilweise riskant. Du kannst einen Film über Prostitution nur dort machen, wo du dich mit der jeweiligen Mafia arrangiert hast. Es gehört ja alles irgendjemanden. Im Fall von Mexiko sind das ziemlich gefährliche Leute: Los Zetas. Ich muss zuerst herausfinden, wie ich überhaupt mit denen sprechen kann, damit sie mir den nötigen Zugang geben. Reynosa ist mitten in einem Drogenkrieg zwischen den Zetas und der Regierung, und die Regierung hat dort gar nichts zu melden. Wenn ich in Mexiko City um eine Drehgenehmigung für Reynosa ansuche und mit der dort herumwedle, würden sie mir gleich eins über den Kopf geben.

Du musst also irgendwie mit diesen Leuten in Verbindung treten, und dann ist es wie in einem Scorsese-Film. Da kommt einer im Trainingsanzug und mit einer dicken Pistole einstecken und fragt: „Was willst du hier? Was machst du überhaupt? Und kannst du dir das leisten?“ Es war auch lustig, weil die haben sich dann meine Filme angeschaut und sie mit mir diskutiert. Sie haben gesagt: „Das ist aber langweilig, das willst du hier auch machen?“, oder „Das war eigentlich ziemlich gut“. Einerseits ganz normale Leute, andererseits wirklich gefährliche Kerle. Unterm Strich kein Spaß. Ein thailändischer Mafiaboss hat mir als erstes eine 45er Magnum auf den Tisch gelegt, um alles zwischen uns klar zu machen. Man geht nicht einfach in ein Bordell und macht dort einen Film. Das funktioniert nicht.

Und selbst dann ist noch überhaupt nichts klar. Denn die Frauen wissen zwar, dass die, denen das ganze Zeug gehört, zugestimmt haben, aber das Sagen über die einzelnen Frauen haben die nicht wirklich. Das wissen beide Seiten. Die Frauen haben teilweise eigene Zuhälter, denen sie mehr verpflichtet sind als der Mafia, und wenn so ein Zuhälter dagegen ist, nützt dir die Genehmigung der Mafia auch nichts. Das Gefüge ist also ziemlich komplex. Ich hätte auch an anderen Orten gern gedreht, aber dort reinzukommen ist uns nicht gelungen.

Wir haben versucht, auch die Strukturen zu zeigen. Das Bordell in Bangladesch ist nicht abgesperrt, aber es ist doch ein Gefängnis. Die meisten tatsächlichen Gefängnisse in verschiedensten Gesellschaften sind die, wo nichts abgesperrt ist. Eine Frau in Bangladesch darf nicht ohne männliche Begleitung auf die Straße gehen. Sobald sie das tut, gilt sie automatisch als Hure, und jeder kann mit ihr machen, was er will. So landen auch die meisten Mädchen in diesem Bordell – sie werden einfach auf der Straße aufgelesen und ins Bordell verkauft. In diesem Bordell-Gefängnis herrscht eine Art Matriarchat, das es aber nur gibt, weil die Gesellschaft draußen komplett männerdominiert ist. Nur deshalb haben innerhalb der Mauern die Frauen das Sagen.

Auch ist dieses Gebiet ein gewachsenes Ghetto. Seit 125 Jahren lebt dort eine weibliche Gesellschaft, viele Frauen werden dort geboren und wachsen darin auf. Und wenn eine Frau einen Buben zur Welt bringt, dann ist der nichts wert, denn man kann ihn nicht zur Nutte machen. Es ist ein geschlossenes System mit kaum auflösbaren Zusammenhängen.

Ich kann es vielleicht am genauesten am Fall von Thailand beschreiben. Der „Fish Tank“ ist ja fast ein umgekehrt Brecht’scher Ort: Die einen sind im Dunkeln, und die anderen sind im Licht – dazwischen ist eine Scheibe. Dieser Ort allein erzählt schon extrem viel, bevor noch irgendjemand den Mund aufgemacht hat. Die Männer, die nicht erkannt werden wollen, sitzen im Finsteren. Die Frauen, die so gut wie möglich ausschauen sollen, kriegen ein sehr weiches Neonlicht. Das machen die Leute praktisch unbewusst. Sie kreieren einen Raum. Und weil es draußen dunkel ist und drinnen hell, wird die Scheibe zu einem Spiegel. Diese bestehende Situation kann ich filmisch nutzen. Ich sage dann zum Wolfgang [Thaler / Kameramann]: „Stell kein Licht auf, sondern bring das zur Wirkung“, „zeig mir, wie die einen im Dunkeln sitzen und die anderen im Licht, und wie die Scheibe dazwischen zu einem Spiegel wird“. Und diese Worte reichen für so viele Aufgaben in der Drehzeit, dass man eigentlich kaum mehr Fragen hat, außer logistische. Genauso habe ich in Bangladesch gesagt: „Zeig mir das Labyrinth. Mach es so, dass man sich nicht auskennt, so wie ich mich seit zwei Monaten hier ständig verirre“ und „zeig mir, dass die Türen dauernd auf- und zugehen, und dass jeder Raum ein Leben ist“.

Whores’ Glory, 2011, Michael Glawogger
© Vinai Dithajohn

Ich suche immer nach Orten, wo ich meinem Kameramann solche Aufgaben stellen kann. „Zeig mir, dass La Zona in Mexiko ein Drive Thru-Bordell ist.“ Die Langsamkeit der Autos, durch die sich die Machtverhältnisse darstellen und manifestieren: „Ich fahre und ich bleibe stehen und ich bin die Macht hinter dem PS-Träger, der hier herumfährt.“ Die Aufgaben sind oft nicht einfach zu lösen. Wenn die Autos z.B. so langsam fahren, dann dauert das ewig. Das heißt, wir mussten mit anderen Brennweiten und Blickwinkeln arbeiten, um das halbwegs authentisch und erträglich für die Zuschauer hinzukriegen. Aber ich sage nie: „film irgendwas“ oder „da machen wir ein Interview“, sondern ich gebe ganz klare Anweisungen. Wieder Beispiel Mexiko: Wir filmen nicht in die Räume hinein (außer es ist drinnen ein Spiegel), damit ich immer das Draußen mit den Autos mit spüre. Das kann man bei der einen oder anderen Einstellung zwar brechen, aber auch das ist dann eine filmische Anweisung. So wie ich sage, „zeig‘ das Labyrinth und schau‘ mit der Kamera in die Räume hinein“. So kriegt jeder filmische Raum in jedem Teil diese spezifische Atmosphäre. Ich muss das haben, um überhaupt einen Film machen zu wollen. Wenn mir an einem Ort so etwas nicht einfällt, dann ist das Motiv mit filmischen Mitteln nicht interessant darstellbar. Dann schreibe ich lieber einen Text darüber, als dort zu drehen.

Ich habe bei dem Film lange überlegt, ob ich einen Kommentar machen soll, oder ob ich Musik als eine Art Kommentar verwende. Am Ende ist die Musik wie ein Dialog zwischen den Frauen und mir geworden. Man muss ja bedenken, dass Prostitution im Alltag zu 80% aus Warten besteht. Man sitzt also da, tut nichts und wartet, dass irgendeiner vorbeikommt und man ein Geschäft hat. Und was die meisten Frauen beim Warten tun, ist Musik hören, Comics lesen oder Fernsehen. Dadurch ist Musik (egal, ob aus dem Ohrstöpsel oder aus dem Fernseher) ein wichtiger Teil ihres Lebens. Ich habe es zuerst mit ihrer Musik versucht, aber das hat ethnographisch und gewollt exotisch geklungen. Dann habe ich begonnen, mit ihnen Musik auszutauschen oder die Musik zu nehmen, die mir selbst beim Anschauen in den Kopf kam. Daraus entstand die Idee, Liebeslieder von Frauen zu verwenden, weil die das auch besonders gerne mögen. So bin ich zu PJ Harvey gekommen, die in ihren Songs so eine Wut zum Thema Liebe und Sex rausschreit. Den ganzen Film mit ihr zu machen, hat aber auch nicht funktioniert. Die Musik-Frage ist überhaupt schwierig. Einerseits bin ich kein Purist, der sagt, dass man im Dokumentarfilm gar keine Musik verwenden darf – oder dass es „wahrer“ wird ohne Musik. Andererseits ist oft völlig unerklärlich, warum Musik in einem bestimmten Moment passt oder nicht. Thai Pop für Bangkok hat überhaupt nicht hingehauen (vielleicht, weil ich ihn fürchterlich finde …), aber die Mexikanerinnen haben PJ Harvey geliebt und gefragt: „Wer ist die coole Tante, die da singt?“ Konzeptuell kann ich das nicht allein erledigen. Ich gebe meiner Cutterin immer die Musik, die sie verwenden soll, und sie schmeißt mir das meiste wieder zurück, weil es einfach nicht funktioniert. Und das ist nicht erklärbar. Es ist, wie wenn man laufen geht und die falsche Musik mithat – dann kommt man aus dem Tritt. Musik ist eine sehr starke Bauchsache, und so habe ich sie auch entschieden.

Ich kann ein bisschen Spanisch, aber ich habe immer jemanden zum Dolmetschen mit. Ich mache dann keine Wort-für-Wort-Interviews, sondern wir setzen uns zusammen, und ich sage meinen Übersetzern und Mitarbeiterinnen, welche Themen sie mit den Frauen ansprechen sollen. Oft klappt das aber gar nicht, denn die meisten reden nur darüber, worüber sie selbst reden wollen. Ich mache mich also möglichst kundig über jede Person an so einem Ort und habe dann ein Foto mit der Lebensgeschichte und Notizen, wer die Freundinnen sind. Einzelinterviews mache ich selten; lieber kreiere ich eine Situation, indem ich zwei Menschen zusammenbringe und dann ein Thema in die Runde werfe. Und wenn die beiden sich verstehen (was du vorher wissen solltest), dann entsteht etwas daraus. Wo diese zwei jungen Mädchen in Bangladesch ehrlich über Schmerz reden, das ist nur möglich, wenn du sie monatelang kennst …

Was aber wirklich gesagt wurde, weiß ich erst, wenn ich die Untertitel mache. Beim Drehen frage ich nur meine Mitarbeiter, ob es in Richtung dessen, was ich wissen wollte, interessant war – aber niemand übersetzt für mich Wort für Wort, das halte ich nicht für wichtig. Es ist mir wichtiger, dass die Leute authentisch das sagen, was sie sagen wollen.

Das Gespräch mit Michael Glawogger (hier in einer gekürzten und redigierten Fassung) führte Alejandro Bachmann am 5. Dezember 2012 im Österreichischen Filmmuseum im Rahmen von “Schule im Kino”.

Alejandro Bachmann und Michael Glawogger im Filmmuseum, 5. Dezember 2012
ÖFM © Sabine Maierhofer

Mit herzlichem Dank an Andrea Glawogger und Christopher Gajsek für die Bearbeitung.

Von 21. März bis 29. April 2024 zeigt das Filmmuseum eine umfassende Werkschau anlässlich des zehnten Todestags von Michael Glawogger, der sich an nahezu jedes denkbare Genre und Format wagte.

Whores’ Glory (AT/DE 2011; Regie, Drehbuch: Michael Glawogger; Kamera: Wolfgang Thaler; Schnitt: Monika Willi; Musik: Coco Rosie, Rosa Maike Vogel, PJ Harvey; Score: Richard Pappik, Sven Regener) wird am 1. und 21. April 2024 gezeigt.