Annabella Miscuglio
aus: Transito. Elvira Notari – Kino der Passage, Heide Schlüpmann, Fabian Tietke (Hg.)
In einer kleinen, schlecht beleuchteten Werkstatt zog Nicola Notari sorgfältig seinen Pinsel über Meter und Meter von Film. Kleine Flaschen von Anilin standen auf seiner Werkbank. Mit Geduld hatte er als Handwerker ein Wunder erreicht, das die Technik erst viele Jahre später vollbringen sollte: den Farbfilm. Einstellung für Einstellung, Szene für Szene kolorierte er den Film, einen Kurzfilm, konzipiert und realisiert von Elvira Coda Notari.
In nur 25 Jahren schrieb Elvira Notari Drehbücher für 57 Langfilme und noch einmal so viele Kurzfilme — realisierte sie als Regisseurin und gründete gemeinsam mit ihrem Mann Nicola die Firma Dora Film. (Um etwa 1910 kauften sie ein Gebäude mit Kulissen und einer Werkstatt, um die Filme zu entwickeln und zu kolorieren.) 1930 musste sie wegen der faschistischen Zensur ihre Arbeit aufgeben. Das heißt nicht, dass Elvira Notaris Filme politisch engagiert waren, obwohl ihre Filmografie einige patriotische Titel enthält, die während des Ersten Weltkriegs entstanden: L‘eroismo di un aviatore a Tripoli (Das Heldentum eines Fliegers bei Tripolis; 1912), Figlio del reggimento (Der Sohn des Regiments; 1915), Sempre avanti, Savoia (Vorwärts, Savoyen!; 1915), Gloria ai caduti (Ruhm den Gefallenen; 1915). Die „unglaublich geschäftige Signora Elvira“, die in zeitgenössischen Nachrichtenblättern als eine „sehr einfache Frau … mit einem mütterlichen Aussehen … und einer verborgenen Reserve an jener moralischen Stärke, die Süditaliener auszeichnet“, beschrieben wird, drehte herzerweichende Melodramen, Filme voller dramatischer Wendungen, voller Verbrechen der Leidenschaft, des Verrats und der Qualen. So realistisch waren ihre Filme, dass während einer Vorführung im Kino Vittoria in Neapel ein Mann aus dem Publikum mehrere Pistolenschüsse auf die Leinwand abgab, um den Bösewicht zu töten.
Eben jener Realismus, die tief empfundene Darstellung von Armut, war es, der das faschistische Regime mit seiner Mission, Italien als durch und durch sauber und ehrlich darzustellen, störte; umso mehr, als die Filme der Dora Film über den Atlantik geschickt wurden, um Millionen von italienischen Emigranten in den USA zum Lachen und Weinen zu bringen. Signora Elviras Filme sind voller Versucherinnen, Verführerinnen, abgefeimter Vamps und schwacher Männer, bereit, Verdammnis auf sich zu nehmen und um der Frauen willen die schlimmsten Verbrechen zu begehen. Die Geschichten der Filme bauen auf dem ewigen Dualismus im Frauenbild auf: In Notaris Dramen gibt es immer die Mutter, betrogen, verlassen und verzweifelt, die eine entscheidende Rolle bei der Wiederherstellung von Recht und Gesetz, ‘A legge (Das Gesetz — so der Titel eines Notari Films von 1920) spielt. Die Frau als Anlass zur Sünde und die Frau als Schöpferin einer geordneten Gesellschaft existieren in Notaris imaginärer Welt nebeneinander, erscheinen als eine Polarisierung von Kräften, die das weibliche Dasein zu zerreißen drohen. Ich stelle mir gern vor, dass Elvira selber den Konflikt zwischen dem Wunsch nach Freiheit und ihrer Rolle in der Familie ausgelebt hat.
Elvira glaubte an die Familie — und zwar so sehr, dass sie ihre Familie in ihr filmisches Werk mit hineinzog: Selbst auf dem Set war der kleine Edoardo unter dem Pseudonym Gennariello der „Lieblingssohn“, ihr Mann Nicola übernahm die Kamera und den Szenenaufbau und kümmerte sich um die Entwicklung, das Kolorieren; er machte den Filmschnitt zusammen mit Elvira, die so zumindest ihre Phantasie befreien konnte. Aber die Phantasie einer Neapolitanerin hält auch immer ein Auge auf den Kassenerfolg, und Elvira, die für die Produktion verantwortlich war, kannte ihr Publikum gut, sie wusste, was es in ihr Kino lockte — das erste in Neapel, das von 9 Uhr morgens bis spät abends fortwährend Vorstellungen bot.
Die meisten ihrer Filme waren nach populären Liedern der Zeit benannt und »lose von ihnen inspiriert“: Fenesta che lucive (Leuchtendes Fenster; zwei Versionen, 1914 und 1926), A Marechiaro ce sta na fenesta (In Marechiaro gibt es ein Fenster; 1913 und 1924), Addio mia bella addio, l‘armata se ne va (Auf Wiedersehen, meine Schöne, die Flotte zieht davon; 1915), Pupatella (Püppchen; 1923), Reginella (Kleine Königin; 1923). Das alles war, bevor Italiens große, industrielle Traummaschine die frühen regionalen Produktionsfirmen (für die die Dora Film ein klassisches Beispiel ist) hinwegfegte und Rom zur Hauptstadt des Films machte. Es war lange bevor Computer benutzt wurden, um zu entscheiden, welche Elemente einem Film zum Erfolg verhelfen. Aber selbst in dieser handwerklichen Phase erhob sich neben der Frage, eine Sprache für das neue Ausdrucksmedium zu finden, ein anderes Problem, das Produzent_innen und Regisseur_innen bis heute umtreibt: der Markt.
Übersetzung aus dem Amerikanischen von Fabian Tietke
Aus: Annabella Miscuglio, „An Affectionate and Irrelevant Account of Eighty Years of Women’s Cinema in Italy“, aus dem Italienischen übersetzt von Giovanna Ascelle und Rosamunde Howe, erschienen in: Giuliana Bruno und Maria Nadotti (Hg.), Off Screen. Women and Film in Italy, London and New York 1988.
Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von Giuliana Bruno und der Herausgeber_innen