Michael Loebenstein, Jurij Meden
Robert Kramer (1939–1999) begann seine Karriere als Filmemacher als Aktivist, der das Kino als den effizientesten und unmittelbarsten Weg ansah, seine politischen Überzeugungen auszudrücken. Nach seinem Engagement für das radikale Newsreel Collective und einer Reihe wichtiger amerikanischer politischer Filme jener Zeit – In the Country (1967), The Edge (1968), Ice (1969), Milestones (1975) – zog Kramer nach Frankreich um und hat sich als Diaspora-Filmemacher neu erfunden.
Künstlerische Handschrift
Vor allem war Robert Kramer einer jener seltenen Filmemacher, für die das Filmemachen kein Beruf oder eine Leidenschaft war, der sie nachgingen, sondern schlicht und einfach eine Lebensweise, eine Art, in der Welt zu existieren. Folglich existieren seine Filme weit jenseits der üblichen Kategorien von Spielfilm, Dokumentarfilm oder experimentellem Kino. Stattdessen stellen sie eine Erweiterung und Manifestation von Robert Kramers bemerkenswerter Neugier und seinem Wunsch dar, die Welt zu verstehen, sie vielleicht sogar ein wenig zu verändern.
Film wie ein Bob-Dylan-Song
Ein Film von Robert Kramer ist wie ein Lied von Bob Dylan. Ein entscheidendes Beispiel dafür: Route One/USA. Kramer selbst behauptete, dass “alles, was er jemals sagen wollte, von Bob Dylan gesungen wurde”. Wie Dylan überlebte Kramer den Übergang von einer Kultur, in der alles möglich schien, zu einer Zeit, in der politische Utopien so gut wie ausgestorben sind. Wie Dylan lebte er, um darüber zu singen, und schuf Kunstwerke, die hartnäckig amerikanisch und gleichzeitig zutiefst universell, gleichermaßen politisch und poetisch sind. Wie bei Dylan besteht sein umfangreiches Werk sowohl aus einer Reihe von großen Studiohits als auch aus einer Lawine von B-Seiten und “Live-Aufnahmen”, die beide gleichermaßen wichtig für unser Verständnis des Künstlers und seiner Zeit sind. Und wie Dylan war auch Kramer nicht in der Lage, etwas zu schaffen, das nicht im Grunde ein Liebesbrief war. Oder genauer gesagt, ein Liebesbrief mit Liebeskummer – es ist kein Zufall, dass Dylans Album “Time Out of Mind” (das mit der existenzialistischen Hymne “Love Sick” beginnt) nach seinem Tod in Kramers CD-Player gefunden wurde, oder dass Kramer eigentlich einen Film mit Bob Dylan drehen wollte.
Starting Places. A Conversation with Robert Kramer
Die gemeinsame Retrospektive des Österreichischen Filmmuseums und der Viennale wird einen umfassenden Überblick über Robert Kramers Karriere geben. Aus diesem Anlass gibt das Österreichische Filmmuseum ein Buch mit Gesprächen zwischen Robert Kramer und dem französischen Filmkritiker und -historiker Bernard Eisenschitz heraus, editiert und konzipiert von Volker Pantenburg. Dieses lange Gespräch erscheint erstmals in der englischen Originalsprache, ergänzt durch drei Essays Kramers aus den 1980er und 1990er Jahren sowie eine aktualisierte Bibliografie und Filmografie.
Warum ist Kramer gerade heute aktuell?
Von Anfang an waren Themen wie die schwarze Bewegung in den USA, die antikolonialen Befreiungskämpfe in Asien und Lateinamerika, der „Globale Süden“ und die Ökologie zentral für Kramers Werk. Sie zeigt, dass Poetik und Neugier in Zeiten der Krise Hand in Hand gehen können mit dem Erkennen und Benennen gesellschaftlicher Themen. Und in solchen Zeiten befinden wir uns auch heute: Krieg in Europa und im digitalen Raum, Klimakatastrophe, rechte Demagogen, die Festungen und eine „Normalität des Bauchgefühls“ postulieren und Erfolge feiern. Dass Angst nicht nur ein schlechter Ratgeber, sondern auch eine Waffe totalitären Denkens und hegemonialer Ansprüche ist, erkannte Kramer bereits in seinem letzten Lebensjahrzehnt. So schrieb er 1989 in „Notes from Inside the Fortress“ (erstmals in Englisch in unserem Buch abgedruckt) folgendes:
Angst. Angst zerfrisst die Seele. Angst behindert den Gedankenfluss, sie relativiert jede Handlung. Sie erstickt die Vorstellungskraft. Ihre Gegenwart ist überall, greifbar, im Schweiß und im Atem, hinter allen Bildern und Worten. (…) Alle reden über Fortschritt und Geld und persönlichen Erfolg, über Materialität, die Globalisierung der Medien, das Ende des Sozialismus. Das Ende der Alternativen. Die Wiedergeburt der Religion, die Rückkehr zur Normalität. Ein dichter, verschmutzter Nebel liegt über dem Land. Darunter: Angst.
Möge das Kino von Robert Kramer uns helfen, in Zeiten der Angst differenzierter zu sehen und den Verhältnissen mit Mut und Entschlossenheit zu begegnen.
Oktober 2024
Retrospektive Robert Kramer
Buch Starting Places: A Converation with Robert Kramer