Friederike Horstmann
aus: The Real Eighties. Amerikanisches Kino der Achtzigerjahre: ein Lexikon, Hg. Lukas Foerster und Nikolaus Perneczky, FilmmuseumSynemaPublikationen 31, Wien 2018
Gena Rowlands als Gloria (John Cassavetes, 1980) auf dem hochformatigen Plakat der Retrospektive “The Real Eighties” im Österreichischen Filmmuseum: Der eng gewählte Bildausschnitt zeigt intensive und unruhige Dynamiken. Durch die feuerrote Farbigkeit ihres floral bemusterten Morgenrocks glüht Gloria im kühlen, verspiegelten Badezimmer vor hellblauem Duschvorhang. Glorias Blick ist erstarrt, im Spiegel gedoppelt, ihre Stirn auf den Handrücken gestützt, ihre Finger halten eine Zigarette. Blondierte, ondulierte Haare flankieren ihr Gesicht, roter Lack liegt auf Lippen und Nägeln. Der Morgenrock von Ungaro hat einen Zug ins Exotische. Seine gesteigerten Töne kommen als Widersacherinnen ins Spiel. Schon an der Intensität der Rottöne lässt sich der Stoff der Geschichte, lässt sich die federnd flirrende Aggressivität der leading lady ablesen: Als schießwütige Surrogatmutter bringt glorious Gloria mit ihrer Kleidung in das durch und durch hierarchisierte Gangstersystem eine erotische Subversion, einen phony glamour. Sie wird umspielt von farbigen, flimmernd schimmernden Röcken mit rokokohaften Rüschen – ein verführerischer Oberflächenglanz aus scheinender Seide, aus durchsichtigem, luftig wallendem Chiffon. Kleidung setzt Ordnung schaffende Kategorien von Natürlichkeit und Künstlichkeit außer Kraft, treibt Schindluder mit Authentizität und Geschichte, schießt über die Handlung hinaus.(1) Kleidung macht nicht nur Leute, sie macht Blicke und zeigt, dass Film nicht nur von Erzählung und Handlung getragen wird. Wie dem US-Kino der Achtzigerjahre wird der Kleidung als zweite Haut vielfach Falschheit und Oberflächigkeit angekreidet: der schöne Schein.(2) In ihren ständig wechselnden Outfits verkörpert Gloria ein vagabundierendes Prinzip. Sie lebt von Substitution. Von der Disponibilität der Zeichen. Vom Spiel. Hintersinnig verweist der Name Gloria Swenson per Vokalverschiebung auf den großen Stummfilmstar Gloria Swanson. Programmatisch zielt das Plakat zu “The Real Eighties” auf Grenzauflösung, auf Verdoppelung – auf den Überschuss, den das Kino der 1980er oft und gerne generiert.
Stilistische Hyperthrophierungen, performative Exzesse, intensive Aus- und Zusammenbrüche liegen auch Love Streams zugrunde. Aus unübersichtlichen Schauplätzen und sprunghaft aneinandergereihten Szenen konturieren sich allmählich zwei Geschichten, erschließen sich zwei Figuren. Beide Handlungsstränge werden gegeneinander geschnitten und entwickeln eine auffällige Dynamik: Sie laufen parallel, kreuzen sich zunächst nur harsch in der Montage und lösen durch ihre Zusammenhangslosigkeit vor allem Empfindungen aus. Kontext kommt später, getrennt. Beide Geschichten sind voller Schwarzbilder, Leerstellen und Zwischenräume, die den Imaginationsraum weit aufspannen. Im Verlauf des Films werden Unterscheidungen zwischen Realem und Imaginärem, zwischen Wachen und Träumen prekär. Love streams, love dreams. Schon die Parallelmontage verweist auf ein gemeinsames Schicksal. Doch erst nach einer knappen Filmstunde treffen Robert Harmon/John Cassavetes und Sarah Lawson/Gena Rowlands aufeinander, noch viel später wird klar, dass sie Geschwister sind: “Während er nicht leben kann, ohne von einer Menge weiblicher Körper umgeben zu sein, hängt sie an einer Menge von Gepäckstücken und Tieren, die sie dem Bruder gibt. […] Jedesmal entsteht Raum durch diese Wucherungen von Körpern, Töchtern, Gepäckstücken und Tieren.”(3) Ein Raum in Wucherungen auch durch verworrene Topografien und wechselnde Kameraperspektiven. Sarahs Zuviel an Koffern, an Kleidung, an Kosmetik bekommt im Film eine fast allegorische Qualität. Sie liebt obsessiv, ist possessiv, muttert too much. Gerade geschieden, hat sie den gerichtlichen Streit um das Sorgerecht für ihre Tochter verloren. Im Gegensatz zu ihrer überbordend erdrückenden Fürsorge sind die daddy skills ihres nicht weniger exaltierten Bruders Robert kaum ausgeprägt, am anderen Ende der sozialen Vaterschaft: Alimente zahlend hat er seinen Sohn jahrelang nicht gesehen. Als Schriftsteller erfolgreich, sind seine Beziehungen von flüchtiger Oberflächlichkeit.
Viele Einstellungen zeigen Sarah und Robert symbolträchtig im Transit – weder hier noch da, sondern in Fluren oder auf Fahrten. Sie sind permanent unterwegs, im Flugzeug, in Autos, zu Fuß. Treppen müssen überwunden werden, von ihnen fällt Robert herunter: ein Gestolpere und Gestakse. Die ungestüm überdrehte Körperlichkeit des Films grenzt an Slapstick – ohne jedoch das Desaster in Leichtigkeit aufzulösen. Love Streams wirkt halbberauscht wie seine Figuren. Schauplätze und Situationen sind wichtiger als eine stringente Erzählung, Stimmungen wechseln sprunghaft. Mal abgehalftert, mal glamourös hangelt sich Robert an der Geschichte entlang, stolpert er von einer Affäre zur nächsten, treibt durch Clubs und Casinos, durch eine rudimentäre Handlung. Immer wieder halten gelbe City Cabs vor seinem Haus, ein nicht enden wollender Strom an Gästen, die den Harmon Drive rauf und runter gleiten.
Krise, Kollaps und Katharsis liegen nah beieinander. In einer schonungslosen Inszenierung zeigt der Film Sarahs und Roberts Zusammenbrüche, ihre derangiert-demolierten Körper. Robert betrinkt sich mal mehr, mal weniger desperately, hat ein blaues Auge und andere Alkoholblessuren, ist blutbesudelt, benötigt Bandagen und Pflaster, scheint im Exzess gegen sich selbst zu intrigieren. Sein auf einem Hügel befindliches Haus erweckt den Eindruck eines permanenten Provisoriums. Es ist voller Nippes, an allen Wänden hängen Malereien und Fotografien: ein luxuriöser Schrottplatz. Dicht an dicht bebilderte Wände zeigen Fotosammlungen vergangener Jahre, ein Erinnerungs- und Erlebnisarchiv. Volle Aschenbecher, leere Champagnergläser – die Genuss- und Gewaltspuren lassen sich kaum beseitigen, auch wenn immer wieder versucht wird, aufzuräumen. Flaschen werden geleert und zerschlagen. Robert Harmon ist ständig unterwegs – eine ungewisse Identität ohne vorgefertigte Entwürfe, ohne genau gefasste Ziele.
Stets wird das Verhältnis von Sarah und Robert zur Disposition gestellt: von anderen, von ihnen selbst. Love Streams entfaltet eine Matrix unterschiedlicher Beziehungs- und Begehrensformen, Zuschreibungen fließen von »husband« über “fiancé” zu “closest and dearest friend.” Liebesdinge entziehen sich der sprachlichen Verkürzung auf nur einen Namen; sie sind unklare (oder ungeklärte) Instanzen mit strömend beliehenen Bedeutungen. In ihrem Filmtip in der SZ kondensiert Frieda Grafe 1985 die grundsätzliche Konfusion im Film: “Wenn ein Ehepaar in einem Film, der von Liebesbeziehungen im Familienkreis handelt, Bruder und Schwester spielt, führt das unweigerlich zu Inversionen.”(4) Love Streams wurde in Cassavetes’ und Rowlands’ Wohnung gedreht: einerseits die billigste Produktionsform, die von der Abhängigkeit gegenüber den Studios befreit, andererseits eine realbiografische Grundierung, welche die Grenze zwischen Dokumentarischem und Fiktionalem, zwischen Leben und Kino suspendiert. Invasiv lässt Cassavetes’ Kino nicht nur binäre Liebeskonzepte in multidimensionale Verhältnisse aufspringen, sondern setzt Positionen der Wahrnehmung in Bewegung, durch abrupt wechselnde Lichtverhältnisse, durch ungewöhnliche Kameraeinstellungen und harsche Schnitte. Selbstfindung und -ausdruck führen durch Stadien der Auflösung und Zersetzung – auch in der filmischen Form.
Kommunikativ ist love ständig in the air: “Love is dead;” “Love is a stream;” “Love is a fantasy little girls have;” “Love is everything.” In zentrifugaler Logik kreist der Film um die Fragen, wie sich leben und lieben lässt. In Love Streams wird viel geredet, es herrscht eine Sucht nach Wörtern. Doch ist das Gerede alles andere als Dialog. Auf ihrer therapeutisch verordneten Europareise versucht sich Sarah in einem Esperanto aus Englisch, Französisch und Spanisch zu verständigen – Sprache gerät in verbale Wucherungen, in Störungen, auf Irrwege: »J’ai have muchas bagages.« Roberts flüchtige Floskeln suchen weder Adressaten, noch harren sie einer Antwort. Es sind zugeworfene Geschwätzigkeiten, in Bars oder Hotels – provisorische Selbsterfindungen, die Wiederholungszwängen unterliegen und über die Dinge hinweghuschen. Seine Sprache ist reduziert auf Sprüche und Schwüre, aufgeplustert, aufgesagt wie in Sprechblasen, ein Sprachfluss, dem kaum Einhalt geboten werden kann. Auch das Geld strömt, ökonomisiert die Beziehungen: Alimente für seinen Sohn, Schecks für Frauen. Es geht um Geldgefälligkeiten: “Could you do me a favor?” “If the favor is for money, yes.” Programmatisch fragt Harmon eine seiner Frauen am Filmanfang: “You don’t sell? Drugs? Love? Poetry? Anything?” Alles scheint auf dem Markt konvertierbar und kapitalisierbar: Tauschwertterror. Dass Harmons Fragen selbst schon wieder einer möglichen Verwertungslogik folgen, zeigt sein Aufnahmegerät. Geld korrumpiert Beziehungen in einem Film, der aber immer wieder romantisch-schwärmende Fluchtlinien kennt: “I am almost in love with you”.
Ein Schicksalswink in der Schlusssequenz: Das Ende ist schön und schauerlich. Starker Regen strömt durchs Bild, stört die Wahrnehmung. Während flackerndes Wetterleuchten die Nacht erhellt, steuert ein langsamer Zoom auf eine Fensterfront zu. Regen verrinnt an den Fensterscheiben, dahinter das Leuchten einer Jukebox und die schemenhafte Gestalt von Cassavetes. Zu plätschernden Eighties-Keyboardklängen singt Bo Harwood Leave It Up To You: “Dissipation / And I didn’t know what to do / But I’ll leave it up to you / Invitation / To the house I miss so well / Limitation / And I didn’t know what to do / I’ll leave it up to you / Observation.” Bei der Wahl des Schlussliedes (wie auch bei der gleichzeitig warm strahlenden und düster deliranten Bildgestaltung) wird Cassavetes auch an die eigenen limitations gedacht haben. Schon während der Dreharbeiten wusste er um seine nicht mehr heilbare Leberzirrhose. Wenn er mit seinem napoleonesken Strohschlapphut der Kamera zuwinkt, mit Getränk und Zigarette in der Hand, und Musik und Film unvermittelt enden, ist das auch ein Abschiedsgruß an das Publikum – ein schöner Gruß, um einen Film über love-Dinge zu beenden: “I’ll leave it up to you”.
(1) Vgl. Sissi Tax: the looks, not the books. Vortrag mit Zugaben. Leipzig 2016.
(2) Vgl. Johannes Binotto: “Abgrund der Oberfläche. The Real Eighties – Amerikanisches Kino 1980–1989.” In: Filmbulletin, Jg. 4, Nr. 13/Juni 2013, S. 12–21.
(3) Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2. Frankfurt am Main 1991, S. 249.
(4) Frieda Grafe: “Filmtip.” In: Süddeutsche Zeitung, 27.08.1985.
Da Capo: The Real Eighties @ Austrian Film Museum