Der Mann mit der Kamera

Michael Loebenstein

Der Mann mit der Kamera, 1929, Dziga Vertov

Dziga Vertov ist einer der bedeutendsten Regisseure in der Geschichte des Dokumentarfilms. Es gibt kein Genre, das er in den knapp zwei Jahrzehnten zwischen der Russischen Revolution und dem Terror der stalinistischen Säuberungen nicht geprägt hätte. Mit der Gleichschaltung der Künste unter Stalin wurde er de facto arbeitslos, und wenig später, mit dem Überfall Nazideutschlands, sollte die Sowjetunion, die er als fortschrittliche, technisierte und pluralistisch-multikulturelle Utopie imaginierte, in Krieg und Vernichtung versinken.

Von all dem erzählt Der Mann mit der Kamera nichts. Ein Kind seiner produktivsten Schaffensphase unter der Ägide des staatlichen ukrainischen Filmstudios, ist er formal Vertovs freiester und kühnster Film und zugleich ein lebensfrohes und optimistisches Zeitdokument des ukrainischen (und in den Moskauer Sequenzen teilweise auch russischen) urbanen Alltags. Vertov – geboren in einer jüdischen Familie im ehemals polnischen, dann russischen Białystok, mit der Kamera in allen Winkeln der Sowjetrepubliken unterwegs – gehört zu jener Generation, die an den sowjetischen Vielvölkerstaat glaubte und ihn auch filmisch beschwor. Der Mann mit der Kamera erzählt von einem Tag zwischen Morgengrauen und Nacht, vom sowjetischen Leben zwischen Entbindungsstation und Sterbebett. Geschichten aus einer “typischen” Großstadt: hier Kyiv, Odessa, Moskau; aber auch aus dem “Triebwerk” der Modernisierung, den Minen und Werken des Donbass.  Nur wenige Jahre später sollte die stalinistische Hungerpolitik Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer töten, Pogrome und politische Verfolgungen sollten die Ukraine über ein Jahrzehnt lang zu einem Teil dessen machen, was der Historiker Timothy Snyder “Bloodlands” nannte.

Der Mann mit der Kamera, 1929, Dziga Vertov

Auch heute noch sind die Dreh- und Spielorte von Vertovs Film Kriegsgebiet: der Donbass in Folge der russischen Aggressionen von 2014 und 2022 besetzt, Odessa und Kyiv seit zwei Jahren wiederholten Bombardements ausgesetzt; die Utopie einer multikulturellen, aufgeklärten und emanzipierten Gesellschaft überschattet von Nationalismus und genozidaler Rhetorik. Vielleicht liegt die anhaltende Popularität von Der Mann mit der Kamera auch darin begründet, dass der Film für jede Generation, die ihn für sich entdeckt, ein Gegengift zu den herrschenden Verhältnissen darstellt.


Čelovek s kinoapparatom (Der Mann mit der Kamera, 1929, Dziga Vertov) wird am 21. April 2024 im Wiener Konzerthaus im Rahmen von “Film + Musik live” in Kooperation mit dem Österreichischen Filmmuseum gezeigt. Uraufführung der Neuvertonung von Martin Eberle und Martin Ptak.

Das Österreichische Filmmuseum beherbergt die Sammlung Dziga Vertov.