Pictures of Lilly – Die zwei Leben des Stummfilmstars Lilly Marischka

Paolo Caneppele & Günter Krenn

“Euer Hochwohlgeboren, sehr verehrte Frau Künstlerin!” – mit dieser oder ähnlich devoten Formulierungen beginnen die Kopfzeilen einer Briefserie aus dem Zeitraum vom 26. Juni 1919 bis zum 14. Februar 1921, die sich in der Filmbezogenen Sammlung des Österreichischen Filmmuseums erhalten hat. Der Inhalt der zum überwiegenden Teil von Frauen verfassten Schreiben aus Wien, Innsbruck, Teschen oder St. Veit an der Glan, erbittet Autogramme. Die Adressatin der Briefe heißt Lilly Marischka und wohnt im 4. Wiener Gemeindebezirk in der Blechturmgasse Nr. 10. Zu jener Zeit ist sie einer der bekanntesten weiblichen Filmstars Österreichs. Nur zwei Jahre danach beginnt ihr Name bereits in Vergessenheit zu geraten.

Brief an Lilly Marischka, 1919

Sucht man heute nach Details aus ihrem Leben, so führt manche Quelle in die Irre. Faktum ist, dass die Filmgesellschaft der Brüder Hubert und Ernst Marischka anno 1919 bestrebt ist, einen eigenen weiblichen Star aufzubauen, der im Sinne der Corporate Identity ebenfalls den Familiennamen tragen soll, zumal sie seit dem 11. August 1918 mit einem der beiden verheiratet ist: Lilly Marischka.

Fast ein Jahrhundert lang vermutet man in ihr Huberts zweite Frau Lilian Karczag (1901-1981), doch dies ist ein Irrtum, da die Hochzeit der beiden erst am 28. August 1921 stattfindet und Hubert noch bis November 1918 mit seiner ersten Frau Felizitas verheiratet ist. Zwar wird der Vorname Lilian mit „Lilly“ abgekürzt, doch tut Huberts Bruder Ernst dies auch mit dem seiner Frau, die am 9. Oktober 1900 als Karoline Bobrowsky in Wien geboren wird und ihn am 11. August 1918 ehelicht. Diese ebenfalls Lilly genannte Frau, deren Bild uns erst um drei Jahrzehnte gealtert von Set- und Backstage-Aufnahmen bei Ernst Marischkas Sissi-Trilogie der 1950er Jahre her vertraut wird, ist jene Lilly, deren Gestalt uns im Alter von 19 bis 23 Jahren in einigen Stummfilmen bewahrt geblieben ist. Optisch passt sie in das Bild der zeitgenössischen Filmstars: Leptosomer Körperbau, blaue Augen, dunkles gewelltes Haar, ein enigmatisch unschlüssiger Mund, dezent schattierte Augen, die der Bewegung der Augäpfel Kontrast verschaffen sollen.

Autogrammkarte von Lilly Marischka, 1920

Die zwei Filme, mit denen sie ihr Spielfilmdebüt gibt, sind 1919 Der Prinz von Pera sowie Enis Aldjelis, die Blume des Ostens. Zweiterer ist der Film, der Lilly als Star aufbauen soll: Schon die ersten Filmmeter gehören ihr, zeigen sie in orientalischer Fantasietracht, als wäre sie einem Makart-Gemälde entstiegen. Bei aller uns heute zeitfern erscheinenden Klischeehaftigkeit, der sich die Dramaturgie verpflichtet, manifestiert sich hier eine Überzeugung, die Ernst Marischka in vielen seiner Filme zum Ausdruck bringt: Seine Frauenfiguren sind moralisch integrer als die meisten ihrer männlichen Pendants.

Im März 1921 ziert Lilly Marischka das Cover der Wiener Zeitschrift Der Humorist. Obwohl sie erst in einem Kurz- und zwei Langfilmen zu sehen war, die noch dazu bereits zwei Jahre zurück liegen, lobt man sie als “erstrangige, seit verhältnismäßig kurzer Zeit zu großem Ansehen und Beliebtheit gelangte erste Kinodarstellerin”[1]. Die Lobeshymnen sind Teil einer Pressekampagne zur Bewerbung ihres neuen Films. Die reizende Künstlerin Lilly Marischka, so schreibt auch das Wiener Salonblatt im März 1921, war seit den beiden in der Türkei gedrehten Filmen nicht mehr auf der Filmleinwand zu sehen. Dies liege daran, dass die Firma mehr mit der Vermarktung bestehender Filme als dem Drehen von neuen beschäftigt sei. Der wahre Grund lag jedoch darin, dass Lilly am 8. März 1919 Mutter einer Tochter wurde: Margarete Julianna, genannt Mady, die ein paar Jahre später ebenfalls an der Seite ihrer Mutter im Film agieren sollte. Nun bereitet die Marischka-Film eine neue Produktion mit dem Titel Dorela mit Lilly in der Titelrolle vor, für die Franz Lehár ihr einen eigenen Walzer zugeeignet hat.

Nach dem Vorbild internationaler Abenteuergeschichten schreibt und dreht Ernst Marischka 1921 den Mehrteiler Die Huronen als “Sensations-Exklusiv-Film” – und letzte Produktion der Marischka-Film. Ihr amerikanisches Schnittmuster ist kein Zufall, ab dem Jahr 1923 überschwemmen US-Produktionen den Markt. Heimische Firmen gehen in Konkurs oder setzen sich nach Berlin ab, um dort zu günstigeren Konditionen weiter zu produzieren. Ernst Marischka schreibt noch für ein paar Stummfilmproduktionen, seine Frau Lilly verteidigt ihren Star-Nimbus weitere drei Filme lang. Nicht ihr Mann, sondern der Ungar Michael Kertész, der 19 Jahre später in Hollywood als Michael Curtiz Casablanca drehen wird, führt Regie bei Lillys Dernière als Schauspielerin: Die Lawine, eine Tragödie in Eis und Schnee.

Nach diesem Streifen ist Lilly Marischka nicht mehr auf der Leinwand zu sehen. In einer Kritik zu ihrem letzten Film darf sie in der Komödie noch einmal lesen, sie sei “die geborene Kinoschauspielerin, sie trifft den Stil, was unter hundert Schauspielern einem gelingt. Dabei ist sie wunderschön und verführerisch.”[2] Ungeachtet dieser Beteuerungen wird sie wie die meisten Stars der Stummfilmzeit vom Publikum rasch vergessen. In den kommenden Jahrzehnten zeigt sie sich nur mehr bei offiziellen Anlässen an der Seite ihres Mannes, leitet später die Geschicke seiner ERMA-Filmproduktionsgesellschaft mit, wie sie das bereits bei der Marischka-Film tat. Sie stirbt am 4. März 1978.

Ein Nachlass ihres Mannes findet am 17. März 1978 Eingang in das Österreichische Filmmuseum. Die Wiederentdeckung des Stummfilmschaffens ihrer Familie ab den 1990er Jahren erlebte sie nicht, ihre Identität immerhin konnte ihr nun zurückgegeben werden.


[1] Der Humorist, Nr. 8, Wien, 10. März 1921, S. 2.

[2] Komödie, Nr. 44, 27. Oktober 1923, S. 21.


Von 18. Oktober 2023 bis 9. September 2024 zeigt das Theatermuseum die Ausstellung Showbiz Made in Vienna. Die Marischkas. Die Filmbezogene Sammlung des Filmmuseums stellte dafür 18 Fotoalben zur Verfügung, in denen die Arbeit der Brüder Hubert und Ernst Marischka dokumentiert wurde. Sie umfassen einen Zeitraum von über vier Jahrzehnten, widmen sich Produktionen der Ton-, aber auch der Stummfilmzeit, wobei neben seltenen Werkaufnahmen zu der Sissi-Trilogie von Ernst Marischka auch die Stummfilmalben mit einzigartigen Fotomotiven aus den Jahren 1913-1923 hervorstechen. Die Alben stammen aus dem Nachlass von Ernst Marischka und wurden der Filmbezogenen Sammlung 1978 nach Lilly Marischkas Tod übergeben. Im Katalog zur Ausstellung sind Paolo Caneppele und Günter Krenn mit Beiträgen zum Stummfilmschaffen der Marischkas, sowie zu Leben und Schaffen von Georg und Franz Marischka vertreten. Hier teilen Paolo Caneppele und Günter Krenn auch ihre Recherchen zur wahren Identität von Lilly Marischka, geborene Karoline Bobrowsky.