Paolo Caneppele & Günter Krenn
Das Studium der Filmgeschichte ermöglicht auch im 21. Jahrhundert noch unerwartete Entdeckungen zu renommierten Filmemachern wie Robert Wiene (1873-1938), dem Regisseur von Meisterwerken des expressionistischen und phantastischen Kinos wie Das Cabinet des Dr. Caligari (1920) und Orlac’s Hände (1924).
Das Österreichische Filmmuseum in Wien verwahrt in seiner Filmbezogenen Sammlung einen Nachlass des österreichischen Drehbuchautors, Regisseurs und Filmproduzenten Ernst Marischka (1893-1963), der im Laufe seiner jahrzehntelangen Karriere, die 1913 begann, zahlreiche Filme schrieb, inszenierte und produzierte, darunter die Sissi-Trilogie (1955-1957) mit Romy Schneider in der Hauptrolle. Weniger bekannt ist, dass er zusammen mit seinem Bruder Hubert Marischka (1882-1959) auch zu den Stummfilmpionieren in Österreich zählte und zwischen 1913 und 1923 an zahlreichen Filmen als Drehbuchautor und/oder Regisseur mitwirkte. Detaillierte Informationen zu diesen Produktionen finden sich im Nachlass akribisch archiviert und mit Fotos illustriert, die während der Dreharbeiten aufgenommen und dann zusammen mit Kritiken, Zeitungsausschnitten und anderen Memorabilia in verschiedene Alben geklebt wurden. Dokumentiert sind sowohl abendfüllende Spielfilme als auch Kurzkomödien und Werbefilme.
Eine Produktion der Sascha-Film aus dem Jahr 1917, die für die 7. österreichische Kriegsanleihe warb, erregt Aufmerksamkeit, da dabei als Regisseur Robert Wiene angegeben wird und diese bislang noch nicht in seine Filmografie aufgenommen wurde. [1]
Der Einakter Der moderne Tantalus wird im Nachlass als “Propagandafilm” bezeichnet, dessen Drehbuch von Ernst Marischka stammt. Aus einem Zeitungsinserat geht hervor, dass er ein “Zeitbild” repräsentiert. [2] Der als verschollen geltende Film wird in Marischkas Produktionsalbum durch sechs Schwarzweißfotos im Format 22×16 cm visuell repräsentiert. Darauf sieht man einen älteren vermögenden Herrn, der in seinem Arbeitszimmer an einem Tisch schreibt. In dem opulent möblierten Raum steht neben einem Schrank auf einem hohen Sockel die allegorische Statuette einer weiblichen Figur. Diese wird auf wunderbare Weise lebendig und drängt den alten Mann mutmaßlich dazu, die Kriegsanleihe zu unterzeichnen. Diese Figur wird von der Schauspielerin Lilly Marischka (1900-1978) dargestellt, die 1917 Ernst Marischkas Verlobte und ein Jahr danach seine Ehefrau war. Es folgen Außenszenen, in denen der alte Mann mit der jungen Frau durch einen Park spaziert und dann in einem Gastgarten sitzt. Die letzte Szene zeigt den Kuss zwischen einem deutlich jüngeren Mann und der Frau vor einem Bahnhof.
Österreichische Zensurunterlagen erwähnen einen Propagandafilm zugunsten der 7. Kriegsanleihe mit dem Titel Der neue Tantalus, der von der Sascha-Meßter-Filmfabrik produziert und in der Woche vom 20. bis 26. November 1917 der Zensurbehörde vorgelegt wurde, die ihn als “für Jugendliche geeignet” beurteilt. [3] In einer Anzeige der Fachpresse wird Friedrich Porges (1890-1978) als Drehbuchautor des Films genannt, während der Regisseur bislang unbekannt blieb. [4] Die Angaben im Album von Ernst Marischka machen es nun möglich, die Regie dieses Einakters Robert Wiene zuzuschreiben.
Ein paar Zweifel bleiben, denn der Titel stimmt nicht exakt überein. Im Album ist er als Der moderne Tantalus angegeben, während er von der Zensur und in der gedruckten Anzeige als Der neue Tantalus bezeichnet wird. Das ist jedoch nur eine geringfügige und nicht konträre Differenz. Warum in der Presse Porges und nicht Marischka als Drehbuchautor genannt wird, bleibt ein Rätsel, könnte jedoch auf einem simplen Recherchefehler beruhen und wäre kein Einzelfall. Dass die Familie Marischka aktiv an dem Film mitgewirkt hat, beweisen die sechs Fotos, die während der Dreharbeiten am Set aufgenommen und in die Produktionsalben geklebt wurden. Die Bilder würden auch die Definition “Zeitbild” untermauern. Das eigentliche Problem bleibt, dass dies die einzige derzeit bekannte – wenn auch vertrauenswürdige – Quelle ist, die den Tantalus mit Robert Wiene in Verbindung bringt, denn wie jeder Historiker weiß, muss man singulären Belegen gegenüber misstrauisch sein: Testis unus testis nullus (Ein Zeuge ist kein Zeuge).
In der reichhaltigen Filmografie von Robert Wiene, den seine Biografen als einen “vielseitigen und äußerst produktiven” Regisseur beschreiben, der sowohl künstlerisch als auch kommerziell tätig war, mag der Propagandafilm Der moderne Tantalus dennoch einen Platz finden. [5]
[1] In der zeitgenössischen Presse kann man 1917 lesen, dass für die Werbekampagne zur 7. Kriegsanleihe fünf ein- oder mehraktige Filme gedreht wurden. Vier davon werden genannt: Der Gewissenswurm, Dem Frieden entgegen, Der geizige Hannes, Der neue Tantalus. Der Titel des fünften ist nicht überliefert. Quelle: “Neue Propagandafilms für die 7. Kriegsanleihe”, in: Neue Kino-Rundschau, Nr. 33, 20. Oktober 1917, S. 6. Die fünf Filme hatten in Wien am 23. November 1917 Premiere. Siehe Neue Kino-Rundschau, Nr. 38, 24. November 1917, S. 81.
[2] Neue Kino-Rundschau, Nr. 38, 24. November 1917, S. 74.
[3] Der Kinobesitzer, Nr. 14, 1. Dezember 1917, S. 4.
[4] Aufgrund dieser Werbeannonce schreibt Anton Thaller in seiner Filmografie den Film Friedrich Porges zu. Siehe Anton Thaller, Österreichische Filmografie 1906-1918, Wien: Verlag Filmarchiv Austria, 2010, S. 334.
[5] Uli Jung, Walter Schatzberg, Robert Wiene: der Caligari-Regisseur, Berlin: Henschel, 1995, S. 11.
Von 18. Oktober 2023 bis 9. September 2024 zeigt das Theatermuseum die Ausstellung Showbiz Made in Vienna. Die Marischkas. Die Filmbezogene Sammlung des Filmmuseums stellte dafür 18 Fotoalben zur Verfügung, in denen die Arbeit der Brüder Hubert und Ernst Marischka dokumentiert wurde. Sie umfassen einen Zeitraum von über vier Jahrzehnten, widmen sich Produktionen der Ton-, aber auch der Stummfilmzeit, wobei neben seltenen Werkaufnahmen zu der Sissi-Trilogie von Ernst Marischka auch die Stummfilmalben mit einzigartigen Fotomotiven aus den Jahren 1913-1923 hervorstechen. Die Alben stammen aus dem Nachlass von Ernst Marischka und wurden der Filmbezogenen Sammlung 1978 nach Lilly Marischkas Tod übergeben. Im Katalog zur Ausstellung sind Paolo Caneppele und Günter Krenn mit Beiträgen zum Stummfilmschaffen der Marischkas, sowie zu Leben und Schaffen von Georg und Franz Marischka vertreten. Hier teilen Paolo Caneppele und Günter Krenn auch ihre Entdeckungen zu Regisseur Robert Wiene.